Kalifornische Sinfonie
betreten hatte, und führten endlose Gespräche. Zufällig hörte sie einmal durch eine Tür Olivers Stimme: »Aber was willst du denn, das ich tun soll, Charles?« Es hörte sich an, als kämen die Worte aus einem verzweifelten Herzen. Charles’ Antwort hörte sie nicht.
Sie unternahm es, Oliver zu Äußerungen über seine täglichen Gespräche mit Charles zu veranlassen. »Oh«, versetzte Oliver dann, »Allgemeines, die Ranch betreffend. Ich war ja lange abwesend und muß mich erst wieder hineinfinden.« Sie wurde sich allmählich klar darüber, daß er ihr nichts sagen würde. Er tat so, als gäbe es nichts zu sagen.
Sie weilte erst zwei Wochen auf der Ranch, aber diese zwei Wochen erschienen ihr wie eine endlose Zeit. Eines Tages erschien ein junger Mexikaner und brachte einen Brief von John für Oliver. Oliver kannte den Boy; er hieß Pablo Gomez und hatte schon oft Botengänge für John gemacht. Charles stand in der Tür und gab Anweisung, Pablos Pferd zu versorgen. Oliver lächelte, nachdem er den Brief gelesen hatte, und reichte ihn Garnet.
Der Brief war auf Don Antonios Ranch geschrieben und enthielt nur eine kurze Mitteilung. John schrieb, er bräche jetzt nach Los Angeles auf und würde von dort aus ausführlich schreiben, nachdem er sich ein Bild über die getätigten Verkaufsabschlüsse gemacht habe. In einem weiteren Abschnitt stand:
»Noch eine Botschaft für Mrs. Hale. Ich hörte soeben, daß der Klipper ›Silberstern‹, der zur Zeit im Hafen von San Diego liegt, in Kürze nach Boston in See geht. Der Kapitän, Mr. Mitchell, ist in Los Angeles, um Proviant einzukaufen. Wenn Mrs. Hale einen Brief an ihre Leute schreiben will, um sie über ihre sichere Ankunft zu informieren, mag sie ihn Pablo mitgeben. Kapitän Mitchell würde den Brief dann in Boston aufgeben. Äußerste Eile wäre allerdings geboten. Der ›Silberstern‹ hatte einiger notwendiger Reparaturen wegen bereits Verzögerung; er will Kap Hoorn umschiffen, solange in der westlichen Hemisphäre noch Sommer herrscht. Er wird Boston im Juni oder Juli erreichen. Ich habe Pablo befohlen, nur eine Nacht auf der Hale-Ranch zu bleiben. Anderenfalls wäre es zu spät.«
John hatte eine klare, gut lesbare Handschrift, die jeden unnützen Schnörkel vermied. Als Garnet den Brief gelesen hatte, brannten ihr die Augen. Sie blinzelte, um Charles und Oliver ihre innere Bewegung nicht merken zu lassen. Der Brief enthielt nichts Wichtiges für Oliver. John hatte ihn offensichtlich nur geschrieben, um ihr die Möglichkeit zu bieten, nach Hause zu schreiben. Sie sah Johns grünschimmernde Augen vor sich, und sie erinnerte sich seiner Menschenverachtung. Sie hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Charles stand gegen den Türpfosten gelehnt und knallte mit der Peitsche. »Nun, was schreibt Ihr Freund?« sagte er und streckte die Hand aus, um den Brief von Garnet entgegenzunehmen.
Garnet sah Oliver an. »Der Brief ist an dich gerichtet«, sagte sie, »soll ich ihn Charles geben?«
»Aber selbstverständlich«, sagte Oliver und lächelte Charles an. »Garnets Gefühl für Takt ist sehr ausgeprägt«, setzte er hinzu.
»Das merke ich«, sagte Charles.
Garnet reichte ihm den Brief. Nachdem Charles ihn gelesen hatte, schlug er dreimal mit dem Peitschenknauf gegen die Tür. Dem heranspringenden Boy erklärte er, es solle ein frisches Pferd für Pablo bereitgehalten werden, damit dieser am nächsten Morgen um halb sieben abreiten könne. Und sich an Garnet wendend: »Sie können jetzt Ihren Brief schreiben.«
Garnet ging in ihr Wohnzimmer. Der unverschämte Narr! dachte sie. Er erlaubte ihr gnädig, einen Brief zu schreiben, gerade so, als habe sie ihn ihres Tuns und Lassens wegen um Erlaubnis zu bitten. Sie ließ die Tür hinter sich zufallen. Es gab einen heftigen Knall, sie lachte vor grimmiger Befriedigung. In Charles’ Haus pflegte niemand eine Tür zuzuschlagen. Nun, sie würde die Türen zuknallen, wann immer ihr danach zumute war. Sie stieß den Papierhaufen auf dem Tisch beiseite, um sich Platz zu schaffen, und griff nach Papier und Feder.
Eine ganze Weile kaute sie unschlüssig an dem Federkiel herum. Da war so viel, was sie gern geschrieben hätte: Lieber Vater, liebe Mutter, ich brauche Euch so nötig. Ich wurde irregeführt, und ich weiß nun nicht, was ich tun soll. Olivers Bruder haßt mich, und es macht ihm Freude, mich seinen Haß fühlen zu lassen. Und Oliver selbst hat sich sehr verändert; er sagt mir nicht, was ihn bewegt, und
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