Kalix - Die Werwölfin von London
Lebewesen.
Dieser kurze Kontakt hatte Kalix klargemacht, dass sie das einsamste, hoffnungsloseste Geschöpf auf der Erde war, ohne Freunde, ohne Hoffnung oder Ziele. Und deshalb würde sie straucheln und sterben.
Sie musste ein abgeschiedenes Fleckchen finden. Die Wogen der Depression brachten eine schreckliche Angst mit sich, die ihr auch körperlich zusetzte. Ihr Herz hämmerte, das Atmen wurde schwer, und sie sah nur noch verschwommen. Sie suchte rechts und links nach einer Gasse, in die sie kriechen konnte. Sie fand keine. Kalix schwankte und streckte den Arm aus, um sich an der Wand abzustützen. Vielleicht bemerkte niemand ihre Not, jedenfalls blieb keiner stehen, um ihr zu helfen, während sie weiterstolperte.
Kalix bekam es nicht einmal mit, als sie das Ende des Gehwegs erreichte und auf die Straße trat. Sie sah auch nicht den Laster, der sie anfuhr. Reifen quietschten, dann knallte es und sie flog durch die Luft. Sie landete verletzt und blutend auf der anderen Straßenseite. Jetzt kamen Leute angerannt und wollten ihr helfen, aber Kalix konnte sie nicht auseinanderhalten, sie sah nur ein be-
ängstigendes, verschwommenes Wogen, als die Menschen sich um sie herum drängten.
Sie konnte nicht sterben, während diese ganzen Leute sie anstarrten. Als Mensch hätte sie die Grenzen des Erträglichen längst 54
überschritten, aber die Wölfin in ihr gab ihr noch einmal Kraft, und sie stand auf. Blind machte sie ein paar Schritte, dann fing sie an zu rennen.
Kalix bog um eine Ecke. Sie rieb sich mit der Hand über die Augen, und plötzlich war vor ihr die Öffnung, nach der sie gesucht hatte. Kalix warf sich in die Gasse. Ihre Beine gaben nach. Sie musste noch weiter. Sie fing an zu kriechen. So weit sie konnte, zog sie sich die Gasse entlang. Ganz am Ende fand sie einen Stapel stinkender, vergammelter Kartons und versuchte, sie über sich zu ziehen.
»Jetzt sterbe ich«, dachte sie. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Körper sickerte.
Als sie an Gawain dachte, stiegen ihr Tränen in die Augen, weil er nie erfahren würde, was mit ihr geschehen war. Kalix flüsterte ihm ein Lebewohl zu, dann wurde alles dunkel.
29
Die Cousinen, von denen die Familie nicht sprach, waren Zwillinge und sahen sehr ähnlich, aber nicht vollkommen gleich aus. Beauty hatte sich die Haare blau gefärbt, Delicious ihre knallpink. Beide spielten Gitarre und sangen, sogar ziemlich gut, und das hätte zusammen mit dem guten Aussehen der MacRinnalchs schon für einigen Erfolg reichen können, wären die beiden nicht zu zugedröhnt gewesen, um mit ihrer Band voranzukommen. Der rasche Abstieg der Zwillinge in die Niederungen des Rock 'n' Roll hatte die doch eher seriösen Ältesten des Clans ziemlich geschockt.
Beauty und Delicious spielten im Wohnzimmer des Hauses, das sie sich in Camden teilten, Gitarre. Alles lief gut, bis Beauty nach ihrer Weinflasche langte, dabei über ihr Gitarrenkabel stolperte
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und gegen Delicious fiel. Sie landeten zusammen auf dem Boden zwischen Flaschen, Gläsern und Zigarettenblättchen.
»Mist«, sagte Beauty.
»Mist«, sagte Delicious.
Eine Weile lang blieben sie schweigend liegen.
»Aber der Song ist gut«, sagte Beauty. »Wir sollten noch eine Zeile schreiben.«
Dann durchstöberte sie das Durcheinander auf dem Fußboden nach ihrem Marihuana. Die Schwestern rauchten viel Gras, das sie mit Bier, Cider und Wein herunterspülten. In ganz Nordlondon waren sie berühmt dafür, wie viel sie vertrugen. Bei jedem normalen Menschen hätte ein solches Verhalten extrem böse Folgen gehabt, aber Beauty und Delicious wurden von ihrer inneren Werwolfstärke geschützt. Die gleiche Stärke, die Sarapen erlaubte, tagelang durch die Moore zu streifen, erlaubte den Zwillingen, in erschreckendem Maße ihrer Leidenschaft für Genussmittel zu frönen. Aber ihr Verhalten blieb nicht ganz ohne Folgen. Die Zwillinge blieben zwar einigermaßen gesund, konnten sich aber nicht mehr beliebig in Werwölfinnen verwandeln. Sie hatten vergessen, wie das ging. In den Wolfsnächten bei Vollmond verwandelten sie sich noch, aber damit hatte es sich. Es war ihnen egal. Dieser Teil Londons bot zwei hübschen Mädchen, die Gitarre spielen und jeden unter den Tisch trinken konnten, auch so genug Spaß.
Als sie sich einen riesigen Joint teilten, den Delicious fachmännisch gebaut hatte, überlegte Beauty irgendwann, woher dieses Klingeln wohl kam.
»Feedback?«
Delicious drehte ihre Gitarre leiser. Das Feedback verstummte. »Da
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