Kaltblütig
Und da hatte Dick den Mann gesehen, kaum älter als er selbst – achtundzwanzig oder dreißig. Er mochte ein »Spieler oder Anwalt, vielleicht aber auch ein Gangster aus Chicago« sein. Wie auch immer, er machte jedenfalls den Eindruck, als sei er mit den Vorzügen von Geld und Macht bestens vertraut. Eine Blondine, die aussah wie Marilyn Monroe, massierte ihn mit Sonnenöl, und seine schlaffe, beringte Hand griff träge nach einem Glas eisgekühltem Orangensaft.
Obgleich auch ihm, Dick, all das zustand, würde er es doch niemals besitzen. Warum hatte dieser Mistkerl alles und er nichts? Hatte dieses »aufgeblasene Arschloch« das Glück etwa für sich gepachtet? Mit einem Messer in der Hand besaß auch er, Dick, Macht. Aufgeblasene Arschlöcher wie der da sollten sich mal besser in Acht nehmen, sonst würde er »ihnen den fetten Wanst aufschlitzen und ihnen die Luft rauslassen«. Doch Dicks Laune war dahin. Die schöne Blondine mit dem Sonnenöl hatte ihm den Tag gründlich verdorben. »Nix wie weg hier«, sagte er zu Perry.
Ein junges, etwa zwölfjähriges Mädchen meißelte mit einem Stück Treibholz Figuren – große, grob gezeichnete Gesichter – in den Sand. Dick tat, als bewundere er ihr Werk, und hielt ihr die Muscheln hin, die er gesammelt hatte. »Die kannst du als Augen nehmen«, sagte er. Das Kind nahm das Geschenk dankbar an, worauf Dick ihm lächelnd zuzwinkerte. Er genierte sich wegen der Gefühle, die es in ihm weckte, denn sein sexuelles Interesse an kleinen Mädchen war eine Schwäche, für die er sich »aufrichtig schämte« – ein Geheimnis, das er noch niemandem gestanden hatte und von dem hoffentlich auch niemand etwas ahnte (obwohl einiges dafür sprach, dass Perry Verdacht schöpfte), weil andere es vermutlich als nicht »normal« empfanden. Und dass er »normal« war, daran gab es für ihn nicht den geringsten Zweifel.
Heranwachsende Mädchen zu verführen, wie er es in den letzten Jahren »acht oder neunmal« getan hatte, sprach keineswegs dagegen, schließlich hegten die meisten »richtigen« Männer insgeheim dieselben Wünsche wie er.
Er nahm das Kind bei der Hand und sagte: »Du bist meine Süße. Mein kleiner Schatz.« Aber sie setzte sich zur Wehr.
Ihre Hand zappelte und zuckte wie ein Fisch am Haken, und er kannte den entsetzten Blick in ihren Augen von früheren Erfahrungen. Er ließ los, lachte leise und sagte:
»War doch nur ein Spiel. Magst du keine Spiele?«
Perry, der noch immer unter dem blauen Sonnenschirm lag, hatte die Szene beobachtet und Dicks Absicht sofort durchschaut, und er verabscheute Dick dafür; er hatte »etwas gegen Menschen, die sich sexuell nicht unter Kontrolle haben«, insbesondere wenn dieser Mangel an Selbstkontrolle sich in »Perversitäten« äußerte, wie er das nannte – »Kinder belästigen«, »Schwuchteleien«, Vergewaltigung. Dabei hatte er Dick das doch unmissverständlich zu verstehen gegeben; wäre es nicht sogar fast zu einer Schlägerei gekommen, als er Dick neulich daran gehindert hatte, ein zu Tode erschrockenes junges Mädchen zu vergewaltigen? Dennoch hatte er keine Lust, diese Kraftprobe zu wiederholen. Er war erleichtert, als er sah, wie sich das Mädchen losriss und davonlief.
Weihnachtslieder drangen an sein Ohr; sie kamen aus dem Radio der vier Frauen und passten nicht recht zu der Sonne von Miami und dem quengelnden Geschrei der Möwen, das nie gänzlich verstummte. »O lasset uns anbeten, o lasset uns anbeten, o lasset uns anbeten den König«: ein Kirchenchor, eine erhabene Musik, die Perry zu Tränen rührte – Tränen, die auch dann nicht versiegen wollten, als die Musik längst verklungen war. Und wie so häufig, wenn es ihn derart überkam, sann er über eine Möglichkeit nach, die eine »enorme Faszination« für ihn barg: Selbstmord. Als Kind hatte er oft daran gedacht, sich umzubringen, aber das waren sentimentale Träumereien gewesen, geboren aus dem Wunsch, seine Eltern oder andere »Feinde« zu bestrafen. Doch seit seinem frühen Mannesalter hatte die Vorstellung, sich das Leben zu nehmen, ihren Fantasiecharakter weitgehend verloren.
Schließlich hatte nicht nur Jimmy diese »Lösung« gewählt, sondern auch Fern. Eine Lösung, die er neuerdings nicht mehr bloß als möglichen, sondern als den einzig denkbaren Tod betrachtete.
Er hatte jedenfalls nicht das Gefühl, dass es für ihn »noch sehr viel gab, wofür es sich zu leben lohnte«.
Sonnige Inseln und vergrabenes Gold, in flammblauen Fluten nach tief
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