Kaltblütig
nicht sonderlich erfreut, als ich endlich nach Hause kam und feststellen musste, dass nirgends Licht brannte. Und die Türen verschlossen waren. Alle waren zu Bett gegangen und hatten mich einfach vergessen. Niemand begriff, warum ich so verärgert war. Dad sagte: ›Wir dachten, du übernachtest in der Stadt. Um Himmels willen, Junge! Wer hätte denn ahnen können, dass du so dumm bist, dich in einem solchen Schneesturm auf den Heimweg zu machen?‹
Der Mosttortenduft faulender Äpfel. Apfelund Birnbäume, Pfirsich und Kirsche: Mr. Clutters Obstgarten, sein mit viel Liebe angelegter Hain. Bobby, der in Gedanken vor sich hin gelaufen war, hatte eigentlich nicht zur River Valley Farm und schon gar nicht hierher kommen wollen. Es war ihm unerklärlich, aber kaum hatte er kehrtgemacht, drehte er auch schon wieder um und näherte sich dem Haus – groß und weiß und unverrückbar. Es hatte ihn immer schon beeindruckt, und der Gedanke, dass seine Freundin darin wohnte, hatte ihn mit Stolz erfüllt. Doch jetzt, ohne die fürsorgliche Hingabe des verstorbenen Besitzers, fügten sich die ersten zarten Fäden des Verfalls langsam, aber sicher zu einem fein gewebten Netz. Ein Kiesrechen lag in der Auffahrt; der ungepflegte Rasen war verdorrt. An jenem schicksalsschweren Sonntag waren die Krankenwagen, die der Sheriff zum Abtransport der ermordeten Familie angefordert hatte, quer über den Rasen bis vor die Haustür gefahren, und die Reifenspuren waren noch zu sehen.
Auch das Haus des Stallknechts stand leer; er hatte für seine Familie in der Nähe von Holcomb eine neue Unterkunft gefunden – was kaum verwunderte, denn trotz des blendenden Wetters schien ein Schatten auf der Clutter-Farm zu liegen, wirkte sie leblos und versteinert.
Doch als Bobby an einem der Getreidespeicher vorbei zum Rinderpferch ging, hörte er den Schweif eines Pferdes gegen die Zaunlatten schlagen. Es war Nancys Babe, die treue, gescheckte alte Stute mit der flachsfarbenen Mähne und den dunklen, violett schimmernden Augen, die den prächtigen Blüten eines Stiefmütterchens glichen. Bobby krallte die Finger in Babes Mähne und rieb die Wange an ihrem Hals – genau wie Nancy es immer getan hatte. Und Babe wieherte. Vorigen Sonntag, bei seinem letzten Besuch bei den Kidwells, hatte Sues Mutter von Babe gesprochen. Mrs. Kidwell, eine etwas versponnene Person, hatte am Fenster gestanden und zugesehen, wie die Dämmerung das Land, die endlose Prärie mit einem Farbschleier überzog. Und auf einmal hatte sie gesagt: »Susan? Weißt du, wen ich ständig vor mir sehe? Nancy. Wie sie auf Babe geritten kommt.«
Perry bemerkte sie zuerst – Anhalter, ein Junge und ein alter Mann, die selbstgenähte Rucksäcke trugen und dem stürmischen Wetter, dem scharfen, sandigen Texaswind zum Trotz nur Latzhosen und dazu ein dünnes Jeanshemd trugen. »Nehmen wir sie mit«, sagte Perry.
Dick zögerte; er hatte nichts dagegen, Anhalter mitzunehmen, vorausgesetzt sie sahen halbwegs zahlungskräftig aus und konnten »wenigstens ein paar Liter Benzin beisteuern«. Doch Perry, der kleine Perry mit dem großen Herzen, drängte Dick in einer Tour, die schäbigsten, erbarmungswürdigsten Gestalten aufzulesen.
Schließlich gab Dick klein bei und hielt. Der Junge – ein stämmiger, scharfäugiger, redseliger Blondschopf um die zwölf – überschlug sich fast vor lauter Dankbarkeit, doch der alte Mann mit dem zerfurchten, gelblichen Gesicht kroch kraftlos auf den Rücksitz und sank schweigend in sich zusammen. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen«, sagte der Junge. »Johnny war kurz vorm Umfallen. Uns hat seit Galveston keiner mehr mitgenommen.«
Perry und Dick hatten diese Hafenstadt vor einer Stunde erst verlassen, nachdem sie vormittags die Heuerbüros abgeklappert hatten, um als Vollmatrosen anzumustern. Eine Reederei wollte sie sofort in Dienst nehmen, auf einem Tanker mit Bestimmungsort Brasilien, und die beiden wären längst auf See gewesen, hätte ihr angehender Arbeitgeber nicht zufällig entdeckt, dass die beiden weder einen Gewerkschaftsausweis noch einen Reisepass besaßen. Seltsamerweise war Dick darüber wesentlich enttäuschter als Perry: »Brasilien! Stampfen sie da nicht gerade eine komplett neue Hauptstadt aus dem Boden? Stell dir vor, man könnte da mitmischen. Da könnte selbst der letzte Trottel ein Vermögen machen.«
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Perry den Jungen.
»Sweetwater.«
»Wo ist denn Sweetwater?«
»Irgendwo in dieser
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