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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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sich an ein ähnliches Jahr erinnern – damals hatte er für Nancy zu schwärmen begonnen. Sie waren beide zwölf, und nach der Schule trug er ihre Mappe den gut eine Meile langen Weg, der vom Holcomber Schulhaus zur Farm von Nancys Vater führte. Oft, wenn es warm und sonnig war, machten sie auf halber Strecke halt und setzten sich ans Ufer des gewundenen, braun und zäh dahinfließenden Arkansas River.
    »Einmal«, hatte Nancy ihm erzählt, »als wir in den Sommerferien in Colorado waren, habe ich die Quelle des Arkansas gesehen. Die Stelle, wo er entspringt. Man glaubt es kaum. Dass das unser Fluss ist. Er hat eine ganz andere Farbe. Wie Trinkwasser, so klar. Und schnell ist er.
    Und voller Felsen. Und Strudel. Daddy hat eine Forelle gefangen.« Ihre Erinnerung an den Ursprung des Flusses hatte sich in Bobbys Gedächtnis eingebrannt, und seit sie tot war … Tja, er konnte es sich selbst nicht recht erklären, aber immer wenn er den Arkansas betrachtete, verwandelte der sich einen Augenblick lang, und er sah nicht mehr den schlammigen Strom, der sich durch die Prärie von Kansas schlängelte, sondern das, was Nancy ihm geschildert hatte – einen reißenden Bach, einen eisigen, kristallreinen Forellenfluss, der ein Gebirgstal hinabstürzte. Und genau so war auch Nancy gewesen: wie frisches Quellwasser – voller Energie und Lebensfreude.
    Gewöhnlich aber wirkt der Winter in West-Kansas wie ein Gefängnis, und gewöhnlich bringen der Frost auf den Feldern und die schneidenden Winde noch vor Weihnachten den Wetterumschwung. Vor einigen Jahren hatte es an Heiligabend zu schneien begonnen, und als Bobby sich am nächsten Morgen zur drei Meilen entfernt gelegenen Clutter-Farm aufmachte, musste er sich durch tiefe Schneeverwehungen kämpfen. Die Mühe lohnte sich, denn als er rotgefroren und mit tauben Gliedern eintraf, wurde ihm ein Empfang zuteil, der ihn mit wohliger Wärme erfüllte. Nancy war verblüfft und stolz, und ihre – oft so schüchterne und reservierte – Mutter umarmte und küsste ihn und bestand darauf, dass er sich in eine Steppdecke hüllte und an den Wohnzimmerkamin setzte.
     
    Während die Frauen sich in der Küche zu schaffen machten, saßen Kenyon, Mr. Clutter und er am Feuer und knackten Walnüsse und Pekannüsse, und Mr. Clutter fühlte sich an ein Weihnachtsfest aus seiner Jugend erinnert, als er in Kenyons Alter gewesen war: »Wir waren sieben. Mutter, mein Vater, die beiden Mädchen und wir drei Jungen. Wir lebten auf einer Farm weit draußen vor der Stadt. Darum erledigten wir unsere Weihnachtseinkäufe traditionell gemeinsam – einmal hin und zurück, alles in einem Aufwasch. In fraglichem Jahr lag der Schnee an dem Morgen, als wir losfahren wollten, genauso hoch wie heute, wenn nicht höher, und es schneite immer noch – Flocken, groß wie Untertassen. Es sah so aus, als wären wir Weihnachten eingeschneit, ohne ein einziges Geschenk unterm Baum. Mutter und die Mädchen waren todtraurig. Da hatte ich eine Idee.« Er wollte ihr kräftigstes Ackerpferd satteln, in die Stadt reiten und für alle einkaufen. Die Familie war einverstanden. Jeder gab ihm seine Weihnachtsersparnisse und eine Liste der Sachen, die er kaufen sollte: vier Meter Kattun, ein Football, ein Nadelkissen, Gewehrpatronen – eine Reihe von Besorgungen, die er nicht vor Einbruch der Dunkelheit erledigt haben würde. Als er sich mit den in einem Segeltuchsack verstauten Einkäufen auf den Heimweg machte, war er dankbar, dass sein Vater ihn gezwungen hatte, eine Laterne mitzunehmen, und auch froh, dass das Geschirr des Pferdes mit Schellen versehen war, denn sowohl das lustige Geklimper als auch der zitternde Schein der Petroleumlampe boten ihm Trost.
    »Der Ritt in die Stadt war ein Klacks, ein Kinderspiel.
     
    Aber jetzt waren sowohl der Weg als auch sämtliche Orientierungspunkte verschwunden.« Erde und Luft – alles war weiß. Das Pferd, bis zu den Schenkeln im Schnee, rutschte aus. »Die Lampe fiel mir aus der Hand.
    Wir waren allein in dunkler Nacht. Es war nur eine Frage der Zeit, bis wir einschlafen und erfrieren würden. Ja, ich hatte Angst. Aber ich betete. Und ich spürte, dass Gott mit mir war …« Hunde jaulten. Er folgte dem Lärm, bis er die erleuchteten Fenster eines nahe gelegenen Farmhauses sah. »Dort hätte ich bleiben sollen. Aber ich dachte an die Familie – an meine weinende Mutter und an Daddy und die Jungs, die sicher schon nach mir suchten, und ich lief weiter. Und so war ich natürlich

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