Kaltblütig
ohrenbetäubender Lautstärke anschwoll, dass Dewey sich ihm schließlich beugte und das Weite suchte, erfüllt von einer so tiefen, bitteren Verzweiflung, dass er davon erwachte.
Als er erwachte, fühlte er sich wie ein fiebriger, verängstigter zehnjähriger Junge: Sein Haar war klatschnass, sein Hemd, kalt, klamm, klebte ihm am Körper. Das Zimmer – ein Zimmer im Sheriff’s Office, in dem er sich eingeschlossen hatte, bevor er am Schreibtisch eingeschlafen war – lag in dumpfem Halbdunkel. Er horchte und hörte, wie nebenan in Mrs. Richardsons Büro das Telefon klingelte. Doch es nahm niemand ab; die Dienststelle war nicht mehr besetzt. Mit bewusster Gleichgültigkeit ging er an dem klingelnden Telefon vorbei – und blieb dann doch stehen. Vielleicht war es Marie, die wissen wollte, ob er noch zu tun habe und sie mit dem Essen auf ihn warten solle.
»Mr. A. A. Dewey, bitte. Ein Gespräch aus Kansas City.«
»Am Apparat.«
»Sprechen Sie, Kansas City. Der Teilnehmer ist in der Leitung.«
»Al? Brother Nye.«
»Ja, Brother.«
»Du wirst es mir nicht glauben.«
»Was?«
»Unsere Freunde sind hier. Hier in Kansas City.«
»Woher weißt du das?«
»Nun ja, sie machen nicht gerade ein großes Geheimnis daraus. Hickock hat die halbe Stadt mit faulen Schecks gepflastert. Und sie mit seinem eigenen Namen unterschrieben.«
»Mit seinem eigenen Namen? Das kann doch nur heißen, dass er nicht lange bleiben will – oder dass er sich hundertprozentig sicher fühlt. Dann ist Smith also noch bei ihm?«
»Ja, sie sind nach wie vor zusammen. Fahren aber mittlerweile einen anderen Wagen. Einen 56er Chevy – schwarzweißer Zweitürer.«
»Mit Kansas-Nummernschildern?«
»Mit Kansas-Nummernschildern. Aber wart’s ab, Al – ich kann unser Glück kaum fassen! Also, die beiden haben einen Fernseher gekauft. Hickock hat mit einem Scheck bezahlt. Und als sie davonfuhren, war der Verkäufer so schlau, sich das Kennzeichen zu notieren. Auf der Rückseite des Schecks. Johnson County 16212.«
»Habt ihr den Halter überprüft?«
»Dreimal darfst du raten.«
»Der Wagen ist gestohlen.«
»Logisch. Und auch die Nummernschilder sind geklaut.
Unsere Freunde haben sie vom Wrack eines De Soto in einer Werkstatt hier in Kansas City abmontiert.«
»Wißt ihr zufällig, wann?«
»Gestern Morgen. Der Chef (Logan Sanford) hat sofort eine Fahndung mit dem neuen Kennzeichen und einer Beschreibung des Fahrzeugs rausgegeben.«
»Was ist mit der Hickock-Farm? Wenn sie noch in der Gegend sind, ist es gut möglich, dass sie da früher oder später aufkreuzen.«
»Keine Sorge. Wir halten die Augen offen. Al …«
»Ja?«
»Weißt du, was ich mir zu Weihnachten wünsche? Dass wir den Fall abschließen können. Weiter nichts. Ich will einzig und allein den Fall abschließen und dann bis Neujahr durchschlafen. War das nicht ein prima Geschenk?«
»Ich hoffe, dein Wunsch geht in Erfüllung.«
»Das hoffe ich für uns beide.«
Als er danach über den dunklen Platz ging und grübelnd durch die trockenen Haufen ungeharkten Laubes schlurfte, wunderte sich Dewey über seinen mangelnden Enthusiasmus. Er wusste jetzt, dass die Gesuchten nicht auf Nimmerwiedersehen in Alaska, Mexiko oder Timbuktu untergetaucht waren, dass ihnen die beiden jederzeit ins Netz gehen konnten – warum also verspürte er nichts von der Begeisterung, die er von Rechts wegen hätte verspüren müssen? Der Traum war schuld daran, denn seine drückende Stimmung wirkte nach, sodass er Nyes Angaben misstraute, ja sie in Zweifel zog. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie Hickock und Smith in Kansas fassen würden. Die beiden waren unverwundbar.
In Miami Beach, 335 Ocean Drive, steht das Somerset Hotel, ein kastenförmiges, mehr oder minder weiß getünchtes Häuschen mit zahlreichen lavendelfarbenen Details, darunter auch ein lavendelfarbenes Schild mit der Aufschrift:
»ZIMMER FREI – GÜNSTIGE PREISE – PRIVATSTRAND – GESUNDE SEELUFT.«
Es gehört zu einer ganzen Reihe zementverputzter kleiner Hotels, die eine triste, weiße Straße säumen. Im Dezember 1959 bestand der »Privatstrand« aus einem schmalen Streifen Sand hinter dem Hotel, in dem zwei Sonnenschirme steckten. Auf dem einen Schirm, rosa, stand »Hier gibt es Valentine-Eiscreme«. Am Weihnachtstag, gegen Mittag, lagen vier Frauen in seinem Schatten und ließen sich von einem Transistorradio ein Ständchen bringen. Unter dem zweiten Schirm, blau und mit der Aufforderung »Braun werden
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