Kaltblütig
versunkenen Schätzen tauchen – solche Träume waren passé. Ebenso passé wie das singende Filmund Bühnenwunder »Perry O’Parsons«, als das er eines Tages halb im Ernst hatte Karriere machen wollen. Perry O’Parsons war gestorben, ohne je gelebt zu haben. Was hatte die Zukunft ihm jetzt noch zu bieten? Er und Dick liefen »ein Rennen ohne Ziel« – so kam es ihm zumindest vor. Und nun, nach kaum einer Woche in Miami, ging ihre lange Reise weiter. Dick, der einen Tag für fünfundsechzig Cent die Stunde bei der ABC Auto-Service Company gearbeitet hatte, meinte: »Miami ist ja noch schlimmer als Mexiko. Fünfundsechzig Cent! Ohne mich.
Ich bin doch kein Nigger.« Und obwohl von dem Geld, das sie in Kansas »eingestrichen« hatten, nur noch siebenundzwanzig Dollar übrig waren, wollten sie morgen wieder zurück nach Westen, nach Texas oder nach Nevada – »irgendwohin«.
Dick, der in die Brandung gewatet war, kam zurück und ließ sich, tropfnass und außer Atem, bäuchlings in den feuchten Sand fallen.
»Wie war das Wasser?«
»Herrlich.«
Dass Nancy Clutter gleich Anfang Januar, nur wenige Tage nach Weihnachten, Geburtstag hatte, machte es ihrem Freund Bobby Rupp nicht eben leicht. Es stellte seine Fantasie auf eine harte Probe, sich jedes Jahr in rascher Folge zwei passende Geschenke ausdenken zu müssen. Trotzdem hatte er mit dem Geld, das er im Sommer auf der väterlichen Zuckerrübenfarm verdiente, nie gegeizt und sich am Weihnachtsmorgen sogleich zu den Clutters aufgemacht, in der Hoffnung, Nancy mit dem Päckchen, das seine Schwestern für ihn eingewickelt hatten, überraschen und erfreuen zu können. Letztes Jahr hatte er ihr ein kleines, goldenes Herzmedaillon geschenkt. Dieses Jahr hatte er, vorsorglich wie immer, zwischen den verbilligten Importparfüms bei Norris Drugs und einem Paar Reitstiefel geschwankt. Und dann war Nancy ermordet worden.
Statt zur River Valley Farm zu eilen, blieb er am Weihnachtsmorgen zu Hause und setzte sich, als seine Mutter das Festessen auftrug, dessen Vorbereitungen sie eine Woche lang beschäftigt hatten, mit der Familie zu Tisch. Alle – seine Eltern und seine sieben Geschwister – gingen seit der Tragödie besonders behutsam mit ihm um. Dennoch musste er sich bei den Mahlzeiten immer wieder sagen lassen, er möge doch bitte etwas essen. Sie verstanden nicht, dass er tatsächlich krank war, dass die Trauer seine Gesundheit angegriffen, einen Kreis um ihn gezogen hatte, dem er nicht entkommen und den niemand sonst betreten konnte – niemand außer Sue. Bis zu Nancys Tod war Sue ihm fremd gewesen, hatte er sich nie recht wohlgefühlt in ihrer Gegenwart. Sie war so ganz anders als die anderen – nahm Dinge ernst, die selbst Mädchen nicht allzu ernst nehmen sollten: Gemälde, Gedichte, die Musik, die sie auf dem Klavier spielte.
Außerdem war er natürlich eifersüchtig auf sie, hatte sie in Nancys Leben, wenn auch auf andere Weise, doch einen fast ebenso wichtigen Platz eingenommen wie er.
Aber eben deshalb konnte sie als Einzige nachfühlen, was er an Nancy verloren hatte. Ohne Sue, ohne ihre nahezu ständige Präsenz, hätte er diese dichte Folge von Schocks kaum ausgehalten – das Verbrechen, die Verhöre mit Mr. Dewey, die bittere Ironie, dass er eine Zeitlang als Hauptverdächtiger gegolten hatte.
Dann, nach etwa einem Monat, schlief ihre Freundschaft langsam ein. Bobby saß immer seltener im winzigen, gemütlichen Wohnzimmer der Kidwells, und wenn er sie doch einmal besuchte, empfing Sue ihn längst nicht mehr so herzlich wie zuvor. Das Problem war, dass sie einander zwangen, etwas zu betrauern und in Erinnerung zu behalten, das sie eigentlich vergessen wollten. Was Bobby manchmal auch gelang: zum Beispiel wenn er Basketball spielte, in seinem Wagen mit achtzig Meilen pro Stunde über die Landstraßen preschte oder, im Zuge seines selbstauferlegten Trainingspensums (er wollte Sportlehrer werden), Langstreckenläufe über flache, gelbe Felder unternahm. Und so streifte er, nachdem er beim Abräumen der Festtafel geholfen hatte, kurzerhand ein Sweatshirt über und ging laufen.
Das Wetter war traumhaft und selbst für West-Kansas, das für seine langen Nachsommer berühmt ist, geradezu einmalig – trockene Luft, strahlender Sonnenschein, azurblauer Himmel. Optimistische Farmer sagten einen »offenen Winter« voraus – eine so milde Jahreszeit, dass das Vieh durchgehend auf der Weide bleiben konnte.
Obwohl solche Winter selten sind, konnte Bobby
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