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Kaltblütig

Titel: Kaltblütig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Truman Capote
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Richtung. Irgendwo in Texas.
    Johnny ist mein Opa. Und er hat ’ne Schwester in Sweetwater. Jedenfalls kann ich nur hoffen, dass sie da wohnt. Erst dachten wir, sie wohnt in Jasper, Texas. Aber als wir nach Jasper kamen, hieß es, sie war mit ihrer Familie nach Galveston gezogen. Aber in Galveston war sie auch nicht – die Frau da meinte, sie wohnt jetzt in Sweetwater. Ich kann nur hoffen, dass wir sie finden.
    Johnny«, sagte er und rieb dem alten Mann die Hände, »hörst du, Johnny? Wir sitzen in ’nem schönen, warmen Chevy – Baujahr ’56.«
    Der alte Mann hustete, ließ den Kopf kreisen, machte die Augen auf und wieder zu und hustete erneut.
    »He, sag mal. Was hat er denn?«
    »Er verträgt das nicht«, sagte der Junge. »Heute hier, morgen dort. Und ewig auf den Beinen. Wir sind schon seit vor Weihnachten unterwegs. Ich hab das Gefühl, wir haben halb Texas abgegrast.« Während er die Hände des alten Mannes weiter massierte, erzählte ihnen der Junge in sachlichem, ungerührtem Ton, dass er bis zum Beginn ihrer Reise zusammen mit seinem Großvater und seiner Tante auf einer Farm bei Shreveport, Louisiana, gelebt habe. Vor kurzem sei die Tante dann gestorben. »Johnny kränkelt schon seit einem Jahr, und meine Tante musste alles allein machen. Ich war ihre einzige Hilfe. Wir haben Feuerholz gehackt. Einen Baumstumpf kleingehackt. Und plötzlich sagte meine Tante, sie kann nicht mehr. Haben Sie schon mal gesehen, wie ein Pferd umfällt und nicht mehr aufsteht? Ich ja. Und genau so war’s bei meiner Tante.« Ein paar Tage vor Weihnachten habe der Mann, von dem sein Großvater die Farm gepachtet hatte, sie »vor die Tür gesetzt«, fuhr der Junge fort. »Und da sind wir los, nach Texas. Mrs. Jackson suchen. Ich kenn sie nicht, aber sie ist Johnnys leibliche Schwester. Und irgendjemand muss uns aufnehmen. Zumindest ihn. Er schafft es nicht mehr weit. Wir sind die ganze Nacht durch den Regen gelaufen.«
    Der Wagen hielt. Perry fragte Dick, warum er angehalten habe.
    »Der Mann ist sehr krank«, sagte Dick.
    »Und? Willst du ihn deswegen etwa rausschmeißen?«
    »Denk doch mal nach. Zur Abwechslung.«
    »Du bist wirklich ein mieses Schwein.«
    »Angenommen, er stirbt.«
    »Der stirbt nicht«, sagte der Junge. »Wir haben es so weit geschafft, da hält er bestimmt noch eine Weile durch.«
    Dick ließ nicht locker. »Angenommen, er stirbt. Stell dir vor, was dann los ist. Die Fragen.«
    »Das ist mir, ehrlich gesagt, scheißegal. Du willst sie rausschmeißen? Dann tu dir keinen Zwang an.« Perry sah erst zu dem Kranken, der noch immer schläfrig, benommen, taub im Fond saß, und dann zu dem Jungen, der seinen Blick ruhig erwiderte, nicht bittend, nicht bettelnd, und Perry musste daran denken, wie er selbst so alt gewesen und mit einem alten Mann umhergezogen war.
    »Nur zu. Schmeiß sie raus. Aber dann kannst du mich gleich mit raussetzen.«
    »Okay, okay, okay. Aber denk dran«, sagte Dick. »Wenn was passiert, bist du schuld.«
    Dick legte den ersten Gang ein. Als der Wagen wieder anfuhr, rief der Junge plötzlich: »Halt!« Er sprang hinaus, hastete am Straßenrand entlang, blieb stehen, bückte sich, sammelte eine, zwei, drei, vier leere Coca-Cola-Flaschen auf, kam zurück und sprang glücklich grinsend in den Wagen. »Mit Flaschen kann man ’ne Menge Kohle verdienen«, sagte der Junge. »Wenn Sie schön langsam fahren, Mister, kriegen wir garantiert ’ne hübsche Stange Geld zusammen. Davon leben Johnny und ich schon seit Wochen: Flaschenpfand.«
    Dick musste lachen, doch sein Interesse war geweckt, und als der Junge ihm das nächste Mal befahl zu halten, gehorchte er sofort. Die Kommandos kamen so häufig, dass sie für fünf Meilen eine volle Stunde brauchten, aber das war es wert. Der Junge war ein »echtes Genie«, wenn es darum ging, zwischen dem grasüberwucherten Geröll am Straßenrand und dem schimmernden Dunkelbraun weggeworfener Bierflaschen die smaragdgrünen Tupfer zu entdecken, die einst 7-up und Canada Dry enthalten hatten. Auch Perry entwickelte bald ein Gespür dafür, wo es Flaschen gab. Zunächst wies er den Jungen nur auf die Fundstellen hin; er fand es unter seiner Würde, selbst umherzuflitzen und sie aufzusammeln. Es war alles »ziemlich albern«, nichts als »Kinderkram«. Trotzdem weckte das Spiel seinen Schatzsucherinstinkt, und schließlich gab auch er sich dem Vergnügen hin, dem Eifer seiner Jagd nach leeren Pfandflaschen. Dick hingegen war es damit todernst. Es schien

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