Kaltblütig
gerechnet haben.‹ Paul – ich hatte ihn hinausgeschickt, um Alvin ein Paar Socken von der Wäscheleine zu holen –, Paul kam herein und sah mir beim Packen zu. Er wollte wissen, wo Alvin hinfuhr. Alvin nahm ihn auf den Arm und sagte: ›Kannst du ein Geheimnis für dich behalten, Pauly?‹ Das hätte er nicht extra zu fragen brauchen. Die Jungs wissen genau, dass sie nicht über Alvins Arbeit sprechen dürfen – darüber, was sie zu Hause so aufschnappen. Er sagte: ›Pauly, erinnerst du dich noch an die beiden Burschen, die wir gesucht haben? Stell dir vor, wir wissen jetzt, wo sie sind, und Daddy geht sie holen und bringt sie hierher nach Garden City.‹ ›Nein, nicht, Daddy‹, flehte Paul, ›du darfst sie nicht hierherbringen.‹
Er hatte Angst – bei einem Neunjährigen nicht weiter verwunderlich. Alvin gab ihm einen Kuss. ›Schon gut, Pauly, wir sorgen dafür, dass sie keinem etwas tun. Die beiden werden nie wieder jemand etwas tun.‹«
Um fünf Uhr nachmittags, gut zwanzig Minuten nachdem der gestohlene Chevrolet die Wüste von Nevada hinter sich gelassen und die Stadtgrenze von Las Vegas überquert hatte, ging ihre lange Reise zu Ende. Kurz zuvor hatte Perry das Postamt von Las Vegas aufgesucht und ein Paket abgeholt, das er sich postlagernd hatte schicken lassen – den großen Pappkarton, den er in Mexiko aufgegeben und auf hundert Dollar versichert hatte, eine Summe, die den Wert des Inhalts in geradezu groteskem Maße überstieg, befand sich in der Kiste doch nichts weiter als Sonnenöl und Jeans, schmutzige Hemden, Unterwäsche und zwei Paar mit Stahlschnallen versehene Stiefeletten. Dick, der vor der Post auf Perry wartete, war bester Laune; er hatte einen Entschluss gefasst, der seine momentanen Schwierigkeiten zunichte machte und ihm einen neuen Weg zu neuen Horizonten wies. Er wollte sich als Air-Force-Offizier ausgeben, ein Plan, der ihn seit langem faszinierte, und Las Vegas war der ideale Ort, um ihn auszuprobieren. Er hatte dem Offizier sogar schon einen Rang und einen Namen gegeben, den er sich von einem alten Bekannten, dem Direktor des Kansas State Penitentiary, geliehen hatte: Tracy Hand. Als Captain Tracy Hand, elegant herausgeputzt in einer maßgeschneiderten Uniform, wollte Dick »den Strip unsicher machen«, die Vergnügungsmeile von Las Vegas mit ihren Tag und Nacht geöffneten Casinos. Kleine, große, das Sands, das Starduster wollte sie alle abklappern und dabei »pfundweise Konfetti« unter die Leute bringen. Wenn er rund um die Uhr wertlose Schecks ausstellte, ließen sich binnen vierundzwanzig Stunden spielend drei-, wenn nicht viertausend Dollar einstreichen. Das war die eine Hälfte seines Plans; die andere hieß: Goodbye, Perry. Dick hatte ihn gründlich satt – seine Mundharmonika, sein Ach und Weh, sein Aberglaube, die tränenfeuchten Weiberaugen, die ewig nörgelnde Flüsterstimme. Argwöhnisch, arrogant und falsch wie eine Frau, die man sich dringend vom Hals schaffen muss. Und dazu gab es nur eine Möglichkeit: nichts sagen – einfach gehen.
Dick war so sehr in seine Pläne vertieft, dass er den Streifenwagen, der an ihm vorbeifuhr, bremste, stehen blieb, gar nicht wahrnahm. Auch Perry, der, den Karton aus Mexiko auf einer Schulter balancierend, die Treppe des Postamts herunterkam, bemerkte den wartenden Wagen und die beiden Polizisten darin nicht.
Die Officers Ocie Pigford und Francis Macauley hatten seitenweise Daten im Kopf, darunter auch die Beschreibung eines schwarzweißen Chevrolets, Baujahr ’56, mit dem Kennzeichen Kansas Jo-16212. Weder Perry noch Dick fiel der Streifenwagen auf, der ihnen folgte, als sie aus ihrer Parklücke ausscherten, und während Perry ihm den Weg beschrieb, fuhr Dick fünf Blocks nach Norden, bog erst links, dann rechts ab und hielt eine Viertelmeile weiter vor einer halbverdorrten Palme und einem verwitterten Schild, von dessen Aufschrift nur noch das Wörtchen »OOM« zu lesen war.
»Ist es das?«, fragte Dick.
Perry nickte, als der Streifenwagen neben ihnen hielt.
In der Detective Division des Las Vegas City Jail gibt es zwei Verhörräume – neonbeleuchtete, jeweils gut drei mal dreieinhalb Meter große Gevierte mit papierfasergedämmten Wänden und Decken. Jeder Raum verfügt neben einem Ventilator, einem Metalltisch und metallenen Klappstühlen über getarnte Mikrofone, versteckte Tonbandgeräte und einen in die Tür eingelassenen Einwegspiegel. Am Samstag, dem zweiten Tag des Jahres 1960, waren beide Räume
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