Kaltblütig
kleinen Mann gehalten, einen glatzköpfigen, pausbäckigen Onkel. »Dick«, sagte er, »erzählen Sie uns doch mal etwas über Ihre Familie.«
Der Gefangene schwelgte in Erinnerungen. Einmal, als er neun oder zehn war, sei sein Vater krank geworden.
»Es war Hasenpest«, und während der monatelangen Krankheit sei die Familie auf die Unterstützung der Kirche und Zuwendungen von Nachbarn angewiesen gewesen – »sonst wären wir glatt verhungert.« Von dieser Episode abgesehen gebe es an seiner Kindheit eigentlich wenig auszusetzen. »Wir hatten zwar nie viel Geld, waren aber auch nie völlig abgebrannt«, sagte Hickock. »Wir hatten immer was zu essen und was Sauberes zum Anziehen. Mein Vater war allerdings sehr streng. Er war nur zufrieden, wenn er mich zur Hausarbeit verdonnern konnte. Aber im Großen und Ganzen kamen wir prima miteinander aus – keine ernsthaften Auseinandersetzungen. Auch meine Eltern haben sich nie gestritten. Ich kann mich zumindest nicht entsinnen. Meine Mutter ist eine wunderbare Frau. Dad ist auch in Ordnung. Ich würde sagen, sie haben für mich getan, was sie konnten.«
Schule? Nun ja, er wäre bestimmt ein mehr als bloß durchschnittlicher Schüler gewesen, wenn er den Büchern auch nur einen Bruchteil der Zeit gewidmet hätte, die er mit Sport »verplempert« habe. »Baseball. Football. Ich war in jeder Mannschaft. Nach der High School hätte ich mit einem Football-Stipendium aufs College gehen können. Ich wollte Maschinenbau studieren, aber so was kostet selbst mit Stipendium eine Stange Geld. Ich weiß auch nicht, aber da hielt ich es für sicherer, mir einen Job zu suchen.«
Noch vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte Hickock bereits als Streckenarbeiter bei der Eisenbahn, als Krankenwagenfahrer, Autolackierer und Autoschlosser gearbeitet; außerdem hatte er eine Sechzehnjährige geheiratet. »Carol. Ihr Vater war Pfarrer. Er konnte mich auf den Tod nicht ausstehen. In seinen Augen war ich ein Totalversager. Er machte Ärger, wo er nur konnte. Aber ich war verrückt nach Carol. Und das bin ich heute noch.
Sie ist eine richtige Prinzessin. Bloß – wissen Sie, wir hatten drei Kinder. Jungs. Und für drei Kinder waren wir einfach noch zu jung. Wer weiß, wenn wir uns nicht so hoch verschuldet hätten. Wenn ich ein bisschen was nebenbei hätte verdienen können. Ich hab’s versucht.«
Er versuchte es mit Glücksspielen, fälschte erste Schecks und experimentierte auch mit anderen Formen des Diebstahls. 1958 verurteilte ihn ein Gericht in Johnson County wegen Einbruchs zu fünf Jahren Haft im Kansas State Penitentiary. Doch da hatte Carol ihn bereits verlassen, und er hatte eine andere Sechzehnjährige zur Braut genommen. »Mies bis dorthinaus. Sie und ihre ganze verdammte Bagage. Sie hat sich von mir scheiden lassen, während ich im Bau saß. Aber ich will mich nicht beklagen. Im August, als ich rauskam, da dachte ich, ich könnte noch mal ganz von vorn anfangen. Ich hab mir in Olathe ’nen Job gesucht, bin wieder zu meinen Eltern gezogen und abends brav zu Hause geblieben. Alles lief prima …«
»Bis zum zwanzigsten November«, sagte Nye, und Hickock heuchelte Unverständnis. »Als es plötzlich nicht mehr ganz so prima lief und Sie wieder mit der Scheckbetrügerei anfingen. Warum?«
Hickock seufzte und sagte: »Darüber könnt ich ’nen Roman schreiben.« Dann, nachdem er sich von Nye eine Zigarette geborgt und der zuvorkommende Church ihm Feuer gegeben hatte, setzte er hinzu: »Perry – mein Kumpel Perry Smith – wurde im Frühjahr auf Bewährung entlassen. Später, als ich rauskam, schrieb er mir einen Brief. Mit Poststempel aus Idaho. Darin ging es um eine Geschichte, über die wir ein paarmal gesprochen hatten.
Mexiko. Wir wollten nach Acapulco oder so, uns ein Fischerboot kaufen und es zum Hochseefischen an Touristen vermieten.«
»Und«, sagte Nye, »wovon wollten Sie dieses Boot bezahlen?«
»Das will ich Ihnen doch gerade erklären«, sagte Hickock. »Also, Perry hatte geschrieben, er hätte ’ne Schwester in Fort Scott. Bei der er angeblich jede Menge Zunder gebunkert hatte. Mehrere tausend Dollar. Geld, das sein Dad ihm schuldete, aus dem Verkauf eines Grundstücks in Alaska. Er schrieb, er kam demnächst nach Kansas, um die Kohle abzuholen.«
»Und davon wollten Sie beide dann das Boot kaufen?«
»Exakt.«
»Aber da wurde dann nichts draus.«
»Etwa vier Wochen später kreuzte Perry auf. Ich hab ihn vom Busbahnhof in Kansas City abgeholt
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