Kaltblütig
City. Aber als ich sie anrief – so gegen zehn vor sieben –, da musste sie erst ihren Vater fragen. Und der sagte natürlich nein – weil es am Abend vorher so spät geworden war. Aber ich könnte doch zum Fernsehen rüberkommen. Ich war oft zum Fernsehen bei den Clutters. Wissen Sie, Nancy war meine erste richtige Freundin. Wir kannten uns schon von klein auf; wir sind von der ersten Klasse an zusammen zur Schule gegangen.
Solange ich denken kann, war sie bildhübsch und beliebt – eine echte Persönlichkeit, schon als kleines Mädchen. In ihrer Gegenwart fühlten sich alle wohl. Unser erstes Rendezvous hatten wir im achten Schuljahr. Die meisten Jungs aus unserer Klasse wollten mit ihr zum Abschlussball, und ich war völlig von den Socken – und ziemlich stolz –, dass sie mit mir hingehen wollte. Wir waren damals beide zwölf. Mein Dad lieh mir den Wagen, und ich fuhr sie zum Ball. Je öfter wir uns trafen, desto lieber mochte ich sie; das gilt übrigens auch für ihre Familie – so eine Familie gab es nicht noch mal, zumindest nicht in unserer Gegend, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Mr. Clutter war in manchen Dingen – Religion und so – vielleicht ein bisschen streng, hat einem aber nie das Gefühl gegeben, alles besser zu wissen. Wir wohnen drei Meilen westlich von den Clutters. Früher bin ich die Strecke zu Fuß gegangen, aber in den Sommerferien arbeite ich immer, und letztes Jahr hatte ich dann schließlich so viel zusammengespart, dass ich mir davon ein eigenes Auto kaufen konnte, einen 55er Ford. Ich fuhr also rüber und war kurz nach sieben da. Unterwegs habe ich niemanden gesehen, weder auf der Straße noch in der Auffahrt oder vor dem Haus. Nur Teddy. Er bellte, als er mich kommen sah. Im Erdgeschoss war Licht – im Wohnzimmer und in Mr. Clutters Büro. Im ersten Stock war alles dunkel, und ich dachte, Mrs. Clutter liegt bestimmt schon im Bett – wenn sie überhaupt da war.
Das wusste man nämlich nie so genau, und ich hab auch nie danach gefragt. Wie sich herausstellte, hatte ich recht; als Kenyon später noch üben wollte – er spielte Baritonhorn im Schulorchester –, redete Nancy ihm das aus, damit Mrs. Clutter nicht gestört wird. Jedenfalls hatten sie gerade zu Abend gegessen, als ich kam, und Nancy hatte den Tisch abgeräumt und das Geschirr in die Spülmaschine gestellt, und die drei – die beiden Kinder und Mr. Clutter – waren im Wohnzimmer. Es war eigentlich alles wie immer – Nancy und ich saßen auf der Couch und Mr. Clutter in seinem gepolsterten Schaukelstuhl. Wir sahen fern, und er las nebenbei ein Buch – eins von Kenyons ›Rover-Boy‹-Büchern. Einmal ging er in die Küche und kam mit zwei Äpfeln wieder; er bot mir einen an, aber ich wollte nicht, da aß er alle beide. Er hatte sehr weiße Zähne; das kommt vom Apfelessen, meinte er.
Nancy – Nancy trug Socken und Hausschuhe, Jeans und einen blauen Pulli, glaube ich; sie trug eine goldene Armbanduhr und ein Namensarmband, das ich ihr im Januar zum sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte – mit ihrem Namen auf der einen Seite und meinem auf der anderen –, und so einen kleinen Ring aus Silber, den sie sich vorigen Sommer gekauft hatte, als sie mit den Kidwells in Colorado war. Es war nicht mein Ring – unser Ring. Wissen Sie, vor ein paar Wochen war sie sauer auf mich und meinte, sie würde unseren Ring vorläufig nicht mehr tragen. Wenn ein Mädchen so was tut, ist Vorsicht angesagt. Klar haben wir uns manchmal gestritten – das tun schließlich alle, die miteinander gehen. In diesem Fall ging es um die Hochzeit eines Freundes, wo ich ein Bier getrunken hatte, eine Flasche Bier, und das hatte Nancy spitzgekriegt. Irgendein Schwätzer hatte ihr gesteckt, ich war sternhagelvoll gewesen. Sie war knallhart, hat eine Woche lang kein Wort mit mir gesprochen. Aber in letzter Zeit lief es besser denn je, und über kurz oder lang hätte sie meinen Ring bestimmt wieder getragen.
Also, erst haben wir Gefährliche Experimente gesehen, auf Kanal 11. Da ging es um eine Arktis-Expedition. Dann einen Western und danach einen Spionagethriller – Der Fall Cicero. Um halb zehn kam Mike Hammer. Dann die Nachrichten. Aber Kenyon war mit nichts zufrieden, hauptsächlich weil er das Programm nicht mit aussuchen durfte. Er mäkelte ständig an allem herum, und Nancy fuhr ihm ein paarmal übern Mund. Sie waren sich in einer Tour am Kabbeln, dabei standen sie sich eigentlich ziemlich nahe – näher als die meisten Geschwister.
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