Kaltduscher
WG-Band exklusiv für uns spielen. Ein großes Ereignis, denn es ist der erste Gig seit fünf Jahren. Nur noch der Schlagzeuger ist der gleiche wie damals. Die anderen Instrumente wurden an neue, und, wie mir gesagt wurde, hochbegabte junge Talente weitergereicht. Ich darf sie nun alle in den Raum mit dem Ausklappbalkon bitten…«
Wie jetzt? Das kann doch nicht sein. Wie in Trance tapse ich mit der Menge über den Flur… Doch tatsächlich, Instrumente, Anlage, alles spielfertig aufgebaut. Deswegen war Hendrik also verschwunden. Verräter. Hat sich wahrscheinlich von Caio zu dieser Untat breitschlagen lassen. Es ist die Pest mit dem Jungen. Kaum hat er mal nix zu arbeiten, lässt er sich für den größten Blödsinn einspannen.
Francesco lässt sich mit viel Sich-Zier-Gepose von den Mädels zu seinem Bass schubsen, und Hendrik sitzt schon mit den Stöcken in der Hand auf seinem Schlagzeughocker. Ich stehe wie vom Blitz getroffen neben Tobi und Gonzo. Tobi hat den Kopf in den Nacken gelegt und kippt sich zwei Jumbo-Chipstüten gleichzeitig in den Schlund. Gonzo schaut mich an. Ich schüttle den Kopf. Tobi hat die beiden Packungen leer gemacht. Während er noch auf ein paar Resten herumkaut, liest er das Kleingedruckte auf der leeren Tüte: »Hm, lecker, enthält Beriokonakulose und Xelaminsäure. Soweit ich weiß, wird gerade noch geforscht, ob beides in Kombination Krebs verursacht… Ham wir noch ne Tüte? Danke. Mjamjamjam…«
Im Hintergrund organisiert Caio den berühmten Sprechchor aus Blues Brothers. So was kann er. Nach ein paar Sekunden brüllt der ganze Raum wie aus einer Kehle.
»Wir wolln die Show! Wir wolln die Show!«
Tobi hat die dritte Tranche Krebs-Chips geschafft und wischt sich über den Mund.
»Also ich war dann so weit.«
Ich sehe noch mal Gonzo an. Er zuckt mit den Schultern. Ich gebe auf.
»Aber nur vier Songs. Dann geh ich wieder.«
»Ja, klar.«
*
Es war noch viel schlimmer, als ich es mir jemals hätte vorstellen können. Beim ersten Song hat Francesco in der falschen Tonart losgespielt, beim zweiten ist ihm sein Boss Dominator außer Kontrolle geraten, beim dritten hat Tobi während seines Solos eine Chipstüte über die Tasten seines Fender-Rhodes-Pianos gekippt, und beim vierten hat Punk-Erwin angefangen mitzugrölen. Der Höllenapplaus, der gerade den Raum füllt, hat wohl weniger mit unserer Darbietung als mit dem der Tageszeit angemessenen Bewusstseinszustand unseres Publikums zu tun. Ich winke noch mal matt, stecke das Mikro ins Stativ und verlasse die Bühne, gerade noch rechtzeitig, bevor die ersten »Ausziehn! Ausziehn!«-Rufe einsetzen.
Die anderen zögern einen Moment lang, aber bevor sie die Gefahr richtig erkennen, ist es auch schon zu spät. Punk-Erwin hat sich das Mikro geschnappt und brüllt irgendwas von »Rock ‘n’ Roll« hinein. Die sofort einsetzende Rückkopplung hätte jedem Ohrenarzt die Tränen in die Augen getrieben. Es gibt keinen Zweifel. Er will singen. Hendrik, Francesco, Tobi und Gonzo sehen sich noch mal an und fügen sich dann ihrem Schicksal. Sie spielen einfach irgendwas.
Und Erwin brüllt. Hendrik hat zum Glück schnell die Hand am Pult und zieht das Mikro runter, so dass weder Boxen noch Ohren nachhaltig zerstört werden. Dafür aber umso mehr die Nerven. Ich gehe sogar so weit zu behaupten, dass Punk-Erwin im Moment ein guter Grund wäre, zumindest vorübergehend mal auf sein Gehör zu verzichten.
Und jetzt kommen auch noch die Show-Elemente. Er zerreißt sich sein schweißnasses T-Shirt. Darunter kommt etwas zum Vorschein, was weniger an Iggy Pop erinnert, sondern, zu unser aller Überraschung, eher an einen Weltklasse-Surfer. Entweder Erwin war mal Leistungssportler, oder die Welt ist einfach ungerecht. Und weil ich ziemlich sicher bin, dass Erwin niemals Leistungssportler war, bleibt wohl nur die zweite Variante.
Julia bewegt sich im vorderen Drittel der Menge. Sie scheint das Ganze gut zu finden. Sie kichert mit Miriam rum, und die beiden schunkeln mit der Musik mit.
Musik.
Noch eben hätte ich dieses Wort für das, was sich da abspielt, nicht für angemessen gehalten. Doch je genauer ich jetzt hinhöre, umso mehr höre ich ein kleines Wunder, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen sträube. Erwin hat sich schon nach ein paar Takten heiser gebrüllt und singt seitdem nur noch im höchsten Falsett. Man merkt, er würde gerne lauter, aber es geht nicht mehr. Dass er gerade singt, als hätte er sein Leben nicht in Berliner
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