Kaltduscher
U-Bahnhöfen, sondern auf den Club-Bühnen von New York und London verbracht, scheint ihm gar nicht klar zu sein. Und die Band spielt dazu, wie ich sie noch nie gehört habe. Gonzo treibt Hendrik und Francesco mit schmutzigen Riffs vor sich her, und Tobi bringt mit dem Rhodes die entscheidende homöopathische Dosis Kultur mit rein. Genau so hatte ich mir das immer vorgestellt. Und Punk-Erwin, wie gesagt, man könnte fast denken, Curtis Mayfields Geist würde persönlich die Hand über ihn halten.
Ich sehe noch mal Julia und Miriam an und spüre einen Kloß im Hals. Es gibt nichts dran zu rütteln. Meine Band, an der ich dauernd nur herumnörgle und die ich Probe für Probe mit härtester Kritik überziehe, klingt, sobald ich weg bin, auf einmal richtig gut. Ich glaube, dies ist wirklich ein guter Moment für ein paar gepflegte Selbstzweifel.
Ich klettere durch das Fenster auf den Ausklappbalkon und hoffe, dass die morgenklare Luft mir zuflüstert, dass das alles nur ein schlechter Traum ist. Aber was auch immer sie mir zuflüstert, es geht ohnehin in dem Mördergroove unter, der durch die Fenster über den ganzen Hof schallt. Wären die Vietnamesen nicht für ein paar Tage auf Tauchstation gegangen, würden sie jetzt wahrscheinlich oben in den Fenstern sitzen, mitwippen und mich übermütig mit Zigaretten bewerten. Heute sehe ich aber nur die Umrisse des seltsamen alten Mannes aus dem Dritten in einem Fenster, kaum zu erkennen, weil er das Licht ausgeschaltet hat.
Nach einiger Zeit bleibt Erwin die Stimme ganz weg. Als Showdown kippt er sich sein Glas über dem Kopf aus und schüttelt unter großem Gejohle ein todbringendes Schweiß-Bier-Gemisch aus seinen blondierten Haaren in die Menge. Anschließend lässt er sich selber der Länge nach hineinfallen. Ja, die großen Gesten, das können sie, die Punks. Aber Erwin kann noch viel mehr, wie ich jetzt weiß, und er vermutlich immer noch nicht.
Die Band spielt ohne Gesang weiter. Wenn ich nicht wüsste, dass da Francesco am Bass ist, würde ich niemals von alleine drauf kommen, so sicher und entspannt reitet er gerade die Takte herunter. Punk-Erwin als küssende Muse für meine Band. Wenn mir das jemand vor einer Stunde geweissagt hätte, hätte ich schallend gelacht. Ob das geneigte Publikum ihn wohl gerade aufgefangen hat? Oder ist er ins Erdgeschoss durchgebrochen? Ich kann es von meinem Platz aus nicht sehen. Aber selbst wenn Letzteres der Fall wäre, er wird sich auf jeden Fall weitaus besser fühlen als ich.
Was mache ich hier überhaupt für eine Figur? Stehe wie eine beleidigte Leberwurst auf dem Balkon. Dabei bin ich gar nicht beleidigt. Nur äußerst unbarmherzig vom Hammer der Erkenntnis getroffen und deswegen ein wenig traurig. Kann man doch mal sein, oder?
Erst jetzt bemerke ich, dass das knutschende Pärchen, das vor fünf Stunden die Küche blockiert hat, ebenfalls auf dem Balkon steht. Gut möglich, dass sie tatsächlich jemand mit dem Handkarren dahin gefahren hat. Sie tun auf jeden Fall immer noch das Gleiche und sehen mich nicht.
»He, willst du nicht noch mal singen?«
Ich drehe mich um. Das war Julia. Sie steht im Fenster und sieht mich an. Partymädchen durch und durch. Keine Spur mehr von Ärger.
»Ach nee, ich weiß nicht.«
»Bist du sauer auf Erwin?«
»Iwo. Ich fand nur, also eigentlich… fand ich Erwin… ziemlich gut, du nicht?«
»Och ja, ging so.«
Sie kommt durchs Fenster gestiegen, sieht das Pärchen und grinst. Wir haben nicht viel Platz zum Stehen, aber das scheint sie nicht zu stören. Ich mache einen Versuch, mich von Voldemort in Ron Weasley zu verwandeln.
»Tschuldige noch mal wegen vorhin. Ich fuchtel manchmal so unkontrolliert rum, und da…«
Sie grinst und hält mir den Arm fest, mit dem ich gerade schon wieder rumgefuchtelt habe.
»Vorsicht.«
»Äh, wie geht es eigentlich deinem Auge?«
»Ist nicht mein erstes Veilchen. Aber mein erstes von einem Mann… das war jetzt aber kein Kompliment, klar?«
»Klar. Das Schlimme am Krieg ist, dass man nicht mehr aufhören kann.«
»Äh… was?«
»Ach, ist mir nur vorhin so durch den Kopf gegangen. Hat aber nichts mit uns zu tun… also glaub ich zumindest.«
»Du bist ja süß.«
Du bist ja süß. Das ist der schlimmste Multi-Bedeutungscode, den Frauen im Repertoire haben. Kann wirklich alles heißen, von »Volldepp« bis zu »Ich liebe dich«. Es kommt auf die Färbung an. Aber Färbung, das ist jetzt nicht das, wofür Männer immer die geeigneten Antennen
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