Kalte Fluten
antwortete Hennsler, stand auf und reichte ihr die Hand. »Geht dir nahe, was?«, ergänzte er, als er ihren Gesichtsausdruck sah.
»Ich will nur wissen, was genau passiert ist«, wimmelte sie ihn ab. »Und jetzt lass mir die Akten bringen.«
Tatsächlich kam nur ein paar Minuten später ein uniformierter Kollege mit einem voll beladenen Aktenwagen. Sofort begann Wiebke zu lesen. Sie war so in das Studium vertieft, dass das Klingeln des Telefons sie förmlich erschreckte. Im Display sah sie, wer anrief.
»Und, Doc?« fragte sie mit zitternder Stimme. »Woran ist sie gestorben?«
Streichers Antwort gab ihr die Gewissheit, dass Lydia ein Kriminalfall geworden war. Man hatte sie als Bodypackerin benutzt und sie sehenden Auges einer absolut tödlichen Gefahr ausgesetzt. Die Art, wie Lydia ums Leben gekommen war, machte Wiebke unglaublich wütend. Sie informierte Thomas, erkundigte sich bei ihm nach Wolfgang und gab auch Günter Bescheid. Dann vertiefte sie sich wieder in die Akten. Wut allein hatte noch nie einen Fall gelöst.
***
»Wie geht es ihm inzwischen?«, fragte Wiebke besorgt.
»Wie wir Mediziner sagen, den Umständen entsprechend«, antwortete Thomas, während er in seiner eigenen Sitzgruppe aus weißem, makellosem Leder Platz nahm, auf der auch schon Günter saß.
Sie hatten ihre Verabredung auf zweiundzwanzig Uhr verschieben müssen, denn die Ereignisse des Tages hatten Wiebkes Arbeitstag ebenso wie den von Thomas um einige Stunden verlängert. Um Thomas’ Schlafgewohnheiten entgegenzukommen, hatten sie außerdem beschlossen, ihre Besprechung hierher, in seine Wohnung in einer perfekt renovierten Jugendstil-Villa am Wilhelm-Külz-Platz zu verlegen.
Der Abend, an dem sie alle drei Wolfgang zur Seite stehen wollten, war ganz anders verlaufen als geplant. Jeder von ihnen wusste, dass Wolfgang heute nach dem Weggang seiner Frau auch noch der letzte Sinn des Lebens abhandengekommen war. Er war, von allen unbemerkt, in einem Zug verstorben.
Wolfgang war schon länger auf dem absteigenden Ast. Mal betrunken, mal depressiv, meist beides zusammen. Wiebke hätte ein Lied davon singen können, wie wenig er im Grunde seit einiger Zeit beruflich leistete. Aber sie war viel zu loyal, um ihren Chef hinzuhängen.
Günter nahm einen Schluck aus seinem Rotweinglas. Er trank etwas zu schnell, sodass einige Tropfen am Rand des Glases hinunterliefen. Niemand bemerkte es. Bis auf Thomas. Wie gebannt verfolgte er den Weg des Rinnsals. Er hoffte inständig, dass der Rotwein nicht auf sein Sofa oder gar auf den darunterliegenden Teppich tropfen würde. Er (oder Günter, wie man es nahm) hatte jedoch Glück. Der Rotwein tropfte erst herunter, als sich das Glas wieder über der Platte des Wohnzimmertisches befand.
Ohne ein Wort zu verlieren, stand Thomas auf, ging über den Flur in seine Küche, kehrte mit einer Sprühflasche Glasreiniger und einer Küchenrolle zurück und beseitigte die Spuren.
Wiebke blickte entschuldigend zu Günter. Sein lächelnder Blick sagte ihr: Macht nichts. Ich verstehe das. Er ist halt so.
Sie atmete auf. Thomas war ihr gerade peinlich. Ein gemeinsamer Freund, der jetzt in irgendeinem sterilen Zimmer in Thomas’ Klinik schlief, hatte gestern seine Frau und heute seine Tochter verloren. Sie, die besten Freunde, saßen zusammen und versuchten, mit der Situation fertig zu werden. Wie unpassend, dass Thomas nicht einmal heute seinen Reinlichkeitsdrang unterdrücken konnte.
Als Thomas, seiner Putzutensilien entledigt, aus der Küche zurückkehrte, griff er den Gesprächsfaden wieder auf.
»Als sie mir Wolfgang brachten, war er schon wieder bei Bewusstsein. Er wollte unbedingt einen Schnaps.«
»Den du ihm doch wohl nicht gegeben hast?«
»Bei uns in der Klinik ist sogar das Rauchen draußen im Garten verboten«, sagte Thomas. »Ich habe Wolfgang einen Tranquilizer injiziert. Das ist das Beste in der jetzigen Situation. Morgen werde ich anfangen, alles mit ihm aufzuarbeiten.«
»Du willst ihn therapieren?«, fragte Günter und trank, diesmal sehr vorsichtig, einen weiteren Schluck Rotwein.
»Natürlich«, sagte Thomas. »Der Mann steht vor den Trümmern seiner Existenz. Das ist ein traumatisches Erlebnis mit noch nicht absehbaren, möglicherweise gefährlichen Folgen. Wenn wir ihm nicht helfen, dann tut es keiner. Ich weiß, wie man mit Trauer umgeht. Vielleicht kann ich ihm einen Weg aus der Krise zeigen.«
Jetzt hätte Wiebke ihn wieder knutschen können. Ihren Thomas. Den Mann, der
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