Kalte Fluten
Jahren –, bist du glücklicher Besitzer dieser Unterlagen.«
»Einverstanden.« Günter wurde schlecht. Ein Brechreiz quälte ihn. Über viele Jahre würde er, sollte er das tun, was von ihm verlangt wurde, von Johannes Kleinert abhängig sein. Wer garantierte ihm denn, dass Kleinert ihn, nachdem er ihn gerettet hatte, nicht doch hinhängte? Dann hätten sie sogar zwei Gründe, ihn aus dem Amt zu jagen.
Er wusste nicht, was er tun sollte. Zeit gewinnen war jedenfalls nicht das Schlechteste.
»Siehst du, hat doch gar nicht so wehgetan.« Kleinert lächelte. »Was meinst du, sollen wir nicht gemeinsam etwas essen gehen? Ich lade dich selbstverständlich ein.«
»Du kannst mich am Arsch lecken.«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Kleinert gut gelaunt. Er feierte still einen entscheidenden Sieg. »Aber ich finde schon eine andere Begleitung.«
Wortlos stand Günter auf. Er würdigte Kleinert keines weiteren Blickes, verließ das Gebäude und setzte sich in seinen Ford Mondeo. Verzweifelt fuhr er sich mit seiner rechten Hand über das Gesicht.
Dann nahm er sein Handy und schrieb eine SMS. »Bin in großen Schwierigkeiten. Muss mit dir reden. Kein Wort zu niemandem. Günter.«
Reglos saß er in seinem Auto und wartete auf die Antwort.
***
Carsten Loll, der Chef des Restaurants »Carlo615«, in dem sie schon ihr erstes Rendezvous gehabt hatten, war auch dieses Mal wieder über sich hinausgewachsen. Die Qualität des Menüs übertraf ebenso wie das Niveau des Services alle Erwartungen.
Wiebke lehnte solche Sympathiebekundungen grundsätzlich nicht ab, wunderte sich aber schon, dass Thomas erstens mitten in der Woche und zweitens nach der Abfuhr, die er ihr gestern verpasst hatte, so einen Aufwand betrieb. Für eine bloße Entschuldigung war es eindeutig zu üppig, was er ihr bot.
Auf die feine Erbsensuppe mit Martini und Minze folgten als Pasta-Gang Linguine mit Vongole veraci. Der Hauptgang nannte sich Agnello alla pugliese, ein Lammbraten mit Kartoffeln.
Edle Weine. Köstliche Gespräche. Ein aufgeschlossener Thomas. Sie hatte ihm unrecht getan. Er war ein Mann wie aus dem Bilderbuch, mit all den Eigenschaften, die heute selten geworden waren. Gebildet, höflich und unaufdringlich. Er trug sie auf Händen. Er übte seinen Beruf mit der gebotenen Sorgfalt und Disziplin aus. Was machte es da schon, dass er …
Wiebke!
Ja, Mama, ich sehe es ja ein.
Als der Nachtisch serviert wurde, Ravioli dolci, eine ligurische Spezialität, setzte Thomas ein feierliches Gesicht auf. Die süßen Teigtaschen dampften vor sich hin.
»Ich habe lange über uns nachgedacht«, sagte er.
Wiebke setzte sich mit einem Ruck auf. War das jetzt das Intro für das typische Gerede, das sie nur zu gut kannte: »Ich schätze dich als Mensch. Aber leider passen wir und unsere Berufe nicht zusammen. Wir können nichts erzwingen. Wir sollten aber auf jeden Fall Freunde bleiben.« Sie erwartete den Nackenschlag.
»Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir einen Schritt weitergehen.«
Wiebke bekam einen trockenen Mund. Fahrig hob sie das Weinglas an den Mund und genehmigte sich einen undamenhaft großen Schluck.
»Ich möchte, dass du bei mir einziehst, und ich möchte, dass du meine Frau wirst. Aber bevor du antwortest, möchte ich, dass du die köstlichen Teigtaschen probierst.«
Zusammenziehen? Heiraten? Teigtaschen?
Wiebke nahm mechanisch die kleine Gabel und zerdrückte einen der drei Ravioli. Thomas beobachtete sie gebannt. Sie probierte und ließ die Ricotta-Füllung im Mund langsam zergehen. Sie schmeckte gar nichts.
»Ausgezeichnet«, sagte sie. »Was hast du gerade gesagt?«
»Später«, insistierte Thomas. »Iss bitte weiter.«
Bei der zweiten Tasche wurde sie fündig. In der Füllung befand sich ein Weißgoldring mit einem Brillanten. Ein lupenreiner Diamant. Du musst jetzt glücklich sein, dachte sie. Los, lächle. Das war es doch, was du immer wolltest. Ein Mann, der ihr einen romantischen Heiratsantrag macht. Wo bleibt ihr nur, ihr Glücksgefühle? Warum bin ich nicht überwältigt?
»Ich bin überwältigt«, sagte sie. »Aber …«
»Was, aber? Willst du etwa nicht?«
»Doch, doch«, beeilte sie sich zu sagen. »Nur: Wir sind doch sehr verschiedene Menschen. Meinst du, dass mein Hang zum Chaos mit deiner Ordnungsliebe, mein Lebenshunger mit deiner Disziplin, meine Ablehnung deines Bruders mit deiner verständlichen Zuneigung zu ihm auf Dauer zusammenpassen?«
Mein Gott, ich rede so wie die Typen, die mich
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