Kalte Herzen
Nachmittag verschwinden konnte, ohne daß es jemand am Bayside merkte. Es schien auch niemanden zu kümmern. Als sie also aus der Bostoner öffentlichen Bibliothek in das Gewimmel des Copley Square kam, empfand sie gleichzeitig Leere und Erleichterung darüber, daß sie nicht in die Klinik zurückkehren mußte. Wenn sie wollte, gehörte der Nachmittag ihr.
Sie beschloß, Elaine zu besuchen.
In den letzten paar Tagen hatte sie sich mehrfach nach Elaines neuer Telefonnummer erkundigt, doch weder Marilee Archer noch die anderen Gattinnen der Transplantationschirurgen hatten überhaupt gewußt, daß die Nummer sich geändert hatte.
Die Bilder von Kunstler und Hennessy noch schmerzhaft frisch im Gedächtnis, fuhr sie auf der Route 9 nach Newton. Das Gespräch mit Elaine stand ihr bevor, aber wenn sie in den vergangenen Tagen an Kunstler und Hennessy gedacht hatte, war ihr unwillkürlich auch Aaron in den Sinn gekommen. Sie erinnerte sich an den Tag seiner Beerdigung, an dem niemand die beiden vorherigen Todesfälle erwähnt hatte. In jeder anderen Gruppe von Menschen wäre es ein geradezu unvermeidliches Thema gewesen. Irgend jemand hätte festgestellt: »Das ist jetzt schon der Dritte.« Oder: »Warum hat Bayside nur so viel Pech?« Oder: »Glauben Sie, daß es einen gemeinsamen Faktor gibt?« Aber niemand hatte etwas gesagt.
Nicht einmal Elaine, die von Kunstler und Hennessy gewußt haben mußte.
Nicht einmal Mark.
Wenn er mir das nicht erzählt hat, was hat er mir sonst noch verschwiegen? ging es ihr durch den Kopf.
Sie parkte den Wagen in Elaines Einfahrt und blieb, den Kopf in den Händen vergraben, eine Weile sitzen, um ihre Niedergeschlagenheit abzuschütteln. Doch die düstere Wolke wollte sich nicht verziehen. Alles fällt auseinander, dachte sie.
Mein Job. Und jetzt verliere ich auch noch Mark. Und das Schlimmste ist, daß ich nicht einmal weiß, warum das alles geschieht.
Seit dem Abend, an dem sie das Thema von Kunstler und Hennessy aufgebracht hatte, war zwischen Mark und ihr alles anders geworden. Sie lebten im selben Haus und schliefen im selben Bett, aber ihre Kommunikation war rein funktional geworden. Genau wie ihr Sex. Wenn sie mit geschlossenen Augen im Dunkeln lag, hätte Mark jeder beliebige andere sein können.
Sie blickte zu dem Haus und hoffte: »Vielleicht weiß Elaine etwas.«
Abby stieg aus dem Wagen und lief die Treppe zur Haustür hoch. Dabei fielen ihr die beiden zusammengerollt auf der Veranda liegenden Zeitungen auf. Sie waren eine Woche alt und schon leicht angegilbt.
Sie klingelte. Als niemand aufmachte, klopfte sie und klingelte dann erneut. Und noch einmal. Sie konnte den Widerhall im Haus hören, gefolgt von Stille. Keine Schritte, keine Stimmen.
Sie betrachtete erneut die beiden Zeitungen und wußte, daß irgend etwas nicht stimmte.
Die Haustür war abgeschlossen. Abby verließ die Veranda und ging um das Haus herum. Im Garten führte ein gepflasterter Pfad zu den gepflegten Azaleen- und Hortensienbeeten. Der Rasen sah frisch gemäht aus, die Hecken geschnitten, doch die gepflasterte Terrasse wirkte beunruhigend leer. Dann fielen ihr die Möbel ein, der Sonnenschirm, der Tisch und die Stühle, die sie am Nachmittag der Beerdigung noch gesehen hatte. Sie waren verschwunden.
Die Küchentür war abgeschlossen, doch eine Schiebetür zum Wintergarten war nicht verriegelt. Abby zog daran, und sie glitt auf. Abby rief: »Elaine?« und trat ein.
Das Haus war leer. Möbel, Teppiche – alles war weg, sogar die Bilder. Sie starrte entgeistert auf die kahlen Wände und den Boden, wo ein Läufer ein helles Rechteck auf dem nachgedunkelten Holzboden hinterlassen hatte. Ihre Schritte hallten in den Räumen wider. Das Haus war besenrein und bis auf ein paar Reklamesendungen, die unter dem Briefschlitz in der Haustür lagen, vollkommen leer.
Sie ging in die Küche. Auch der Kühlschrank war leer, alle Oberflächen gewischt, es roch nach Desinfektionsmittel. Das Wandtelefon war tot.
Abby verließ das Haus wieder und blieb völlig verwirrt in der Auffahrt stehen. Noch vor zwei Wochen war sie in diesem Haus zu Gast gewesen. Sie hatte auf der Wohnzimmercouch gesessen, Kanapees gegessen und die Fotos der Familie Levi über dem Kamin betrachtet. Jetzt schien es fast, als ob sie sich die ganze Szene nur eingebildet hätte.
Noch immer wie benommen, stieg sie in den Wagen und setzte rückwärts aus der Auffahrt. Sie lenkte fast automatisch und konzentrierte sich kaum auf die Straße, mit
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