Kalte Herzen
gesagt, daß du keine Pommes essen darfst?«
»Wir haben den Photoapparat vergessen, Mom! Ich wollte ein Bild von Joshs Narbe machen.«
»Wofür brauchst du ein Bild von seiner Narbe?«
»Mein Lehrer meint, das wäre cool.«
»Dein Lehrer ist zu alt, um Wörter wie ›cool‹ zu benutzen.
Keine Fotos von Narben. Das ist Eindringen in die Privatsphäre.«
»Josh, brauchst du Hilfe bei den Pommes?«
»Und was meinst du, Harry, kriegst du ihn angeschlossen?«
»Also, ich weiß nicht. Das ist ein ziemlich alter Fernseher.«
Vivian war es endlich gelungen, sich wieder neben Abby zu schieben. Es klopfte erneut, und ein weiterer Schwung Verwandter stürmte unter »Wie gut er aussieht! Sieht er nicht gut aus?«-Rufen das Zimmer, Durch das Gedränge der O’Days sah Abby kurz zu Josh hinüber. Er blickte in ihre Richtung, lächelte hilflos und winkte ihnen zu.
Leise verließen Abby und Vivian das Zimmer. Sie standen im Flur und lauschten den Stimmen hinter der Tür. »Nun, Abby?«
sagte Vivian. »Das ist die Antwort auf Ihre Frage, ob es das wert war.«
Im Schwesternzimmer fragten sie nach Dr. Tarasoff, und die Empfangsschwester schlug vor, daß sie im OP-Aufenthaltsraum nachsahen. Dort fanden Abby und Vivian ihn auch, bei einer Tasse Kaffee in seine Krankenblätter schreibend. Mit seiner dicken Brille und der Tweedjacke erinnerte er eher an einen leicht vertrottelten englischen Gentleman als an einen berühmten Herzchirurgen.
»Wir haben gerade Josh besucht«, bemerkte Vivian.
Tarasoff blickte von seinen mit Kaffeeflecken übersäten Notizen auf. »Und was meinen Sie, Dr. Chao?«
»Ich finde, Sie leisten großartige Arbeit. Der Junge sieht fantastisch aus.«
»Er hat wegen des Herz-Kreislauf-Stillstands eine leichte Amnesie. Aber ansonsten hat er sich schnell wieder erholt, wie Kinder das immer tun. In einer Woche wird er entlassen. Wenn die Schwestern ihn nicht schon früher rausschmeißen.« Tarasoff klappte die Krankenakte zu und sah Vivian an. Sein Lächeln verblaßte. »Ich habe noch ein dickes Hühnchen mit Ihnen zu rupfen, Frau Doktor.«
»Mit mir?«
»Sie wissen, wovon ich rede. Die andere Transplantationspatientin in Bayside. Als Sie uns den Jungen geschickt haben, haben Sie uns nicht die ganze Geschichte erzählt. Ich habe erst im nachhinein erfahren, daß das Herz schon anderweitig vergeben war.«
»Das war es nicht. Es gab eine empfängerbezogene Entnahmeeinwilligung.«
»Die unter Anwendung von einiger List und Täuschung zustande gekommen ist.« Er sah Abby über seine Brille hinweg an und runzelte die Stirn. »Ihr Verwaltungsdirektor Mr. Parr hat mir sämtliche Einzelheiten berichtet. Wie übrigens auch Mr. Voss’ Anwalt.«
Vivian und Abby sahen sich an.
»Sein Anwalt?« fragte Vivian.
»Genau.« Dr. Tarasoff blickte wieder Vivian an. »Wollten Sie, daß ich verklagt werde?«
»Ich wollte den Jungen retten.«
»Sie haben mir Informationen vorenthalten.«
»Und jetzt lebt er, und es geht ihm gut.«
»Ich sage Ihnen das nur einmal. Tun Sie so etwas nie wieder!«
Vivian setzte zu einer Antwort an, besann sich jedoch eines Besseren und nickte ernst. Es war ihre unterwürfige, asiatische Haltung, den Blick niedergeschlagen, den Kopf leicht gesenkt.
Tarasoff kaufte sie ihr nicht ab. Er sah sie leicht verärgert an, bevor er unerwartet laut auflachte. Dann wandte er sich wieder seinen Krankenblättern zu und sagte: »Ich hätte Sie aus Harvard rausschmeißen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«
»Alle Mann bereit. Hart nach Lee!« rief Mark und riß das Ruder herum.
Der Bug der
Gimmie Shelter
drehte sich in den Wind, die Segel knatterten, und Taue peitschten über das Deck. Raj Mohandas eilte zur Winde des Starboots und begann, die Fock zu hissen.
Mit einem lauten Knacken blähte sich das Segel im Wind, und die
Gimmie Shelter
neigte sich so heftig nach Steuerbord, daß in der Kabine unter Deck scheppernd Getränkedosen umfielen.
»Alle Mann nach Luv!« rief Mark. »Los, rüber an die andere Reling!«
Abby krabbelte über das Deck auf die Backbordseite, wo sie sich an eine Rettungsleine klammerte und erneut inniglich gelobte: »Nie wieder.« Was hatten die Männer nur mit ihren Booten? Und warum weckte das Meer in ihnen den Drang zu schreien?
Denn sie schrien alle vier, Mark und Mohandas sowie Mohandas’ 18jähriger Sohn Hank und Pete Jaegly, ein Assistenzarzt im dritten Jahr. Sie brüllten von zu raffenden Segeln, dem Spinnaker-Baum und verpaßten Windböen. Sie brüllten
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