über die Bilderrahmen. Klavierspielerhände, fuhr es Natascha durch den Kopf. Er hat die Hände eines Pianisten. Wie überhaupt sein ganzes Aussehen im Gegensatz zu seinem Benehmen tadellos war. Sein Körper durchtrainiert. Sein Anzug maßgeschneidert. Seine Brille perfekt geputzt. Und sein Blick stets frisch geschliffen. Natascha kannte ihn aus dem Innenausschuss des Bundestags. Dort pflegte er mit scharfen Reden zu glänzen, die keinen Widerspruch duldeten. Wenn er nicht das letzte Wort hatte, konnten die Sitzungen des Ausschusses bis in die frühen Morgenstunden gehen. Er war vermutlich der härteste Politiker, dem Natascha bisher begegnet war. Eigentlich ein Wunder, dass er es noch nicht zu einem eigenen Ministerium gebracht hatte. Andererseits: Vielleicht war es auch gerade das, dass er eben nicht zum Kompromiss fähig war und dass er auf andere Meinungen nicht eingehen konnte. »Nun, dann begrüße ich Sie hiermit herzlich im Kanzleramt. Wenn ich etwas für Sie tun kann, Sie finden mich vier Büros weiter auf der rechten Seite. Ich erwarte, dass wir gut zusammenarbeiten.« Das war nicht der Ausdruck einer Hoffnung, sondern ein Befehl. Unmissverständlich.
»Davon gehe ich aus.« Natascha hatte nicht die Absicht, sich Frey unterzuordnen. »Wir werden uns sicher gut ergänzen.«
Frey blickte von Henriks Foto auf. »Oh ja«, sagte er leise. Ganz leise. »Das werden wir.«
Dann war er weg. Natascha aber suchte noch einmal das Organigramm des Kanzleramts heraus, das sie sich von ihrer Sekretärin Jana Berling hatte geben lassen. Unter der Kanzlerin standen die Staatssekretäre. Links die beamteten, rechts die »parlamentarischen Staatssekretäre«, Bundestagsabgeordnete, die den Rang eines stellvertretenden Bundesministers bekleideten und im politischen Betrieb der Nation als hochbezahlte Proporzamtsträger galten: Parlamentarier, die man mit einem Extrapöstchen ausgestattet hatte, das außer Spesen für das Staatswesen nichts brachte. Neben Dr. Stephanie Wende stand auf diesem Papier nur Dr. Marcus Frey, MdB. Natascha selbst war noch nicht auf dem Dokument verewigt worden. Aber genau genommen war sie ja auch erst morgen offiziell Staatssekretärin. Wenn sie ihren Eid vor der Bundeskanzlerin abgelegt haben würde. Sie entschloss sich, noch ein wenig in den Unterlagen zu lesen, die ihr der Sicherheitschef Jäger gegeben hatte. Nach wie vor läutete das Telefon im Fünf-Minuten-Takt, und weiterhin kam E-Mail auf E-Mail herein. Es war nahezu unmöglich, sich zu konzentrieren.
*
Kurz nach 22.00 Uhr riss der Sturm so plötzlich ab, dass es sich anfühlte, als wäre sie gegen eine Wand geschleudert worden. Es verwirrte sie, dass das Telefon schwieg, kaum noch E-Mails eintrafen und sogar die Hauspost, die ihr seit dem Vormittag Unterlagen auf den Schreibtisch geschaufelt hatte, scheinbar in den Feierabend gegangen war. Linkisch türmten sich die gelben Mappen auf dem polierten Holz. Und nun das:
Von: Die Pupille
An:
[email protected] Betreff:
Text: DU WIRST HIER NICHT ALT, PR INZESSIN.
Du wirst hier nicht alt, Prinzessin. Natürlich, sie hatte schon schlimmere Mails bekommen. Viel schlimmere. Es war nicht so sehr der Inhalt, diese unverhohlene, aber unbestimmte Drohung, die sie wie ein Schlag in die Magengrube traf, sondern die Tatsache, dass die Nachricht von hier gekommen war. Von ihrem Arbeitsplatz. Aus dem Herzen der Macht. Dem Bundeskanzleramt. An ihrem ersten Tag. War es möglich, dass sie jetzt schon Feinde in diesem Haus hatte? Feinde, die ihre private E-Mail-Adresse kannten?
»Geht’s gut?« Sie hatte ihn nicht kommen hören und fuhr zusammen, obwohl sie seine wohlklingende Stimme sofort erkannte. Lässig stand er in der Tür, die Krawatte hatte er abgelegt, das Jackett offen, das Haar, sonst immer sehr sorgfältig gekämmt, war ihm etwas verwegen in die Stirn gefallen. »Sie wirkten gerade etwas angegriffen.«
»Alles in Ordnung, Herr Berg. Danke.« Schnell klappte sie ihr Notebook zu. »Ich war nur irritiert, weil plötzlich nichts mehr reinkam.«
David lachte leise und kam näher. »Nennen Sie mich doch bitte David. Jetzt, wo wir so häufig zusammenarbeiten werden …«
»Okay. David.« Natascha versuchte ein Lächeln.
»Es ist nach zehn. Da machen die Sklaven Feierabend. Die schönste Stunde des Tages!« Seine Zähne blitzten wie aus der Zahnpastareklame. David Berg sah einfach verdammt gut aus. »Wollen Sie eine Runde durchs Haus mit mir drehen? Dann zeige ich Ihnen mal Ihre neue