Kalte Macht: Thriller (German Edition)
vergingen viel zu schnell. Die meiste Zeit waren sie im Bett, nicht nur um sich zu vergnügen, sondern vor allem um den Schlaf nachzuholen, der ihnen beiden so fehlte. Henrik sah sich eine Reihe von typischen Männer-Action-Agenten-Filmen an, und seine Frau leistete ihm dabei sogar Gesellschaft. Auf eine schräge Art hatte sie Spaß daran. Nur wenn sie bei den haarsträubendsten Verfolgungsjagden in Kichern ausbrach, maulte Henrik und schickte sie zum Chips holen in die Küche.
Natürlich checkten beide mehrmals täglich ihre E-Mails und ihre Mailbox-Nachrichten. Henrik verbrachte außerdem einige Zeit in seinen Social Networks, wenn Natascha ihre Schlittschuhe auspackte und zum See runterstapfte. Aber alles in allem waren diese Tage wunderbar ungestört, zumal keine dramatischen Nachrichten eintrafen, derentwegen Natascha ihren kurzen Urlaub hätte unterbrechen müssen.
Beim Eislaufen konnte Natascha ihre Schwermut abarbeiten. Niemand sah ihr zu, wie sie ihre melancholischen Bahnen zog und den Tränen freien Lauf ließ. Die Einsamkeit des Sees war das Abbild ihrer eigenen Seele. Denn auch wenn sie in Henrik einen wundervollen und verständnisvollen Ehemann hatte, so litt sie doch zunehmend unter der Politikerkrankheit: innere Isolation, verbunden mit Misstrauen und Paranoia. Immerhin, seit sie wusste, dass sie in Berlin belauscht wurden, musste sie nicht mehr an sich selbst zweifeln. Für Anfälle von Verfolgungswahn gab es gute Gründe. Und alles, was ihr sonst widerfahren war in den wenigen Monaten, seit sie ihr Amt angetreten hatte, trug ebenfalls zu ihrer Verunsicherung bei.
Am Tag nach Weihnachten nahm Henrik seine Recherchen wieder auf. Er durchforstete das Internet nach Querverbindungen unter den Top-Personalien des Kanzleramts. Auf diese Weise hatte er bereits herausgefunden, dass sich Berg und Paulus schon seit Studienzeiten kannten, dass die Anwaltskanzlei von Staatssekretär Frey mehrmals den Kanzleramtsminister in Steuerverfahren vertreten hatte, dass der Sicherheitschef schon im Familienministerium für die Kanzlerin gearbeitet hatte – und davor beim hessischen Landesverfassungsschutz, was die Kanzlerin womöglich nicht einmal wusste. Auch dass die Staatssekretärin im Kanzleramt Stephanie Wende offenbar früh von Finanzminister Rau gefördert worden war, war eine der Erkenntnisse aus seinen Recherchen. Im Grunde war es eine kleine Clique, die da in Berlin die Geschicke der Republik lenkte. Im weiteren Kreis dieser Gruppe waren auch Leute wie Jo Feldmann von der Nationalbank angesiedelt. Er saß allein in zwei Aufsichtsräten von Großunternehmen, in denen auch Frey saß.
Die sogenannte Deutschland AG war alles andere als tot. Sie blühte nur seit einigen Jahren im Verborgenen. In den Jahren des Wirtschaftswunders hatten die Menschen noch zu den Wirtschaftskapitänen aufgeblickt. Und diese hatten sich als Vaterfiguren der kleinen Leute begriffen. Bis in den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts diese Untertanen-romantik einer harten, einer tödlichen Realität gewichen war: Die RAF hatte gemordet, Verstrickungen waren ans Licht gekommen, die nicht nur die wirtschaftliche, sondern vor allem die politische Bundesrepublik tief erschütterten. In der Folge hatten sich die großen Lenker der Nation in ihre Paläste, vornehmlich in Österreich und in der Schweiz, zurückgezogen. Und ihre Paladine vor Ort hatten die Strippen im Verborgenen gezogen. Henriks Ehrgeiz war es nun, sie dort wieder hervorzuzerren. Dafür opferte er gerne ein paar freie Wintertage.
*
Zwei Tage nach Weihnachten gingen die Vorräte zu Ende, und Natascha entschloss sich, noch vor dem Frühstück in den Ort zu fahren, um etwas einzukaufen. Sie war früh wach gewesen und hatte sich an den Schreibtisch gesetzt, um sich einen Überblick über die anstehenden Termine zu verschaffen. Seit sie im Kanzleramt arbeitete, funktionierte sie fast nur noch auf Zuruf: Ihre Sekretärin wusste sehr viel besser darüber Bescheid, wann sie wo zu sein hatte, als sie selbst. Es war schon fast ein Luxus, an diesem eisigen Wintermorgen im Bademantel am Fenster zu sitzen und das eigene Leben zu betrachten. Das der bevorstehenden Tage und Wochen und auch das hinter ihr liegende. Sie blätterte zurück, zwei, drei, vier Wochen, fünf, sechs … Und plötzlich fiel ihr etwas auf, was sie in all der Hektik, in all dem Wahnsinn völlig übersehen hatte. Aber vielleicht hatte es ja auch mit dem Stress zu tun. Dennoch, sie musste sich Klarheit
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