Kalte Macht: Thriller (German Edition)
seinen Platz und ging langsam zurück. Auf der Brücke blieb er stehen und starrte in das schwarze Wasser der Spree. Ein menschlicher Körper überlebte Temperaturen, wie sie jetzt herrschten, im Wasser nur wenige Minuten. Wenige Minuten. Würde er das aushalten? Aber wie war das, wenn man ertrank oder im Wasser erfror? Wurde man ohnmächtig? Oder blieb man bei Bewusstsein, während zuerst die Glieder versagten und dann die Organe? Er stieg auf das Geländer. Sein Mantel verhakte sich. Mit einem Ruck riss er ihn los und wäre beinahe gestürzt. Er musste mit den Armen rudern, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Nein, nun auch noch wie ein Tölpel unabsichtlich ins Wasser zu fallen, das würde er dem Schicksal nicht zugestehen. Er hatte ein Recht darauf, in Würde zu gehen. Henrik Eusterbeck dachte noch einmal an Natascha. An seine Mutter. Auch an Michelle, das konnte er nicht verhindern. Dann breitete er die Arme aus und spürte, wie ein Ruck durch seinen Leib ging.
»He, Mann! Was soll das?«, keuchte ihn ein Jugendlicher an, während er sich über Henrik beugte und einen leicht alkoholischen Geruch verströmte. »Willst du dich umbringen, oder was?«
Der junge Mann, ein Türke vermutlich, hatte ihn im letzten Moment gepackt und zurückgerissen. Henrik war hart auf dem Straßenpflaster aufgeschlagen. Lichtreflexe zuckten über seine Bindehaut. Er konnte seinen Retter nur unscharf erkennen. »Lass das bleiben, ja? Heute ist Silvester. Morgen ist ein neues Jahr. Da sieht alles anders aus.« Der junge Mann half ihm auf die Beine. »Willst du ein Bier, Mann?«
Henrik schüttelte den Kopf, spürte ein plötzliches Schwindelgefühl, wandte sich ab und erbrach sich auf den Gehweg.
»Der ist schon voll«, tönte irgendwo im Hintergrund eine andere Stimme, und einige Jugendliche grölten etwas dazu.
»Danke«, keuchte Henrik und stolperte davon. »Danke.« Dann verschluckte ihn die düstere Stimmung der Stadt.
*
Es war kalt in Wolfhardt Lippolds altem Haus. Immer noch. Die Wände waren schlecht isoliert, die Heizung hätte vermutlich schon lange überholt werden müssen. Also blieben sie in der Küche, wo es immer noch am angenehmsten war, und berieten sich. Petra Reber war einigermaßen schockiert über das, was sie gehört hatte. Natascha möglicherweise schwanger von einem Unbekannten, Henrik mit einer Affäre, die Wohnung in Mitte abgehört, womöglich auch das Haus am See, Drohungen per Mail und Telefon … »Wie hast du das nur alles ausgehalten, Natascha?« Sie legte ihre Hand auf die der Freundin.
»Frag nicht. Ich habe mich sowieso mit Ephedrin vollgepumpt, seit ich den Job im Kanzleramt mache. Du weißt ja, wie die sich das vorstellen.«
Petra Reber nickte. »Klar. Die ticken alle so. Da macht doch keiner weniger als zwölf Stunden am Tag.«
»Man könnte wirklich einiges verbessern«, murmelte Natascha, während sie an ihre »offizielle Aufgabe« dachte. Und dann entschied sie sich, Petra entgegen all ihren Vorsätzen die unschönen Details zu schildern.
Es wurde spät. Die Nacht verging, und im Osten zog schon der Morgen auf, als Natascha Eusterbeck ihre Geschichte beendet hatte. Petra Reber hatte sie immer wieder unterbrochen, hatte nachgefragt, zu begreifen versucht, hatte zwischendurch das Gefühl, als müsste sie aus einem bizarren Traum erwachen. Diese zweite Offenbarung war mehr, als sie sich hatte vorstellen können, denn Natascha legte ihr nicht nur die Aufgabe dar, sie erklärte ihr auch, was sie bis dato herausgefunden hatte, berichtete von den Gesprächen mit Steiner und mit David Berg. Von ihren Recherchen, ihren Schlüssen, ihren Materialien, die sie gesammelt hatte. Und holte die Mappe, die ihr Vater ihr hinterlassen hatte.
Am Ende der Nacht war es in der durchheizten Küche so warm, dass ihnen beiden der Schweiß auf der Stirn stand. »Und das?«, fragte Petra Reber und zeigte auf ein Foto, auf dem sich eine Gruppe junger Männer mit albernen Frisuren um einen Schreibtisch versammelt hatte.
»Das sind Steiner und Frey. Beide damals im Innenministerium.« Natascha deutete auf eine Figur, die halb verdeckt im Hintergrund stand. »Und das könnte Jäger sein.«
»Jäger?«
»Der Sicherheitschef im Kanzleramt. Vielleicht war er damals Personenschützer.«
»Kann ich mir nicht vorstellen, dass Frey oder Steiner damals Personenschutz hatten«, sagte Petra Reber. »Die waren doch da höchstens Abteilungsleiter.«
Natascha nickte. »Aber Rau hatte Personenschutz.«
Petra Reber beugte
Weitere Kostenlose Bücher