Kalte Macht: Thriller (German Edition)
nachdachte, dass sie erschrocken das Lenkrad zur Seite zog und beinahe einen Unfall verursacht hätte.
Das so freigesetzte Adrenalin, das in den folgenden Minuten durch ihre Adern rauschte, half dem Gedanken, eine präzise Schärfe zu erlangen. Das war nicht einfach, obwohl es doch eigentlich eine simple Erkenntnis war. Petra Reber erinnerte sich, dass Natascha ihr erzählt hatte, wie die Kanzlerin ihr erklärt hatte, warum auch Henrik im Amt arbeiten müsse: »Sie hat gesagt, ich bräuchte jemanden, dem ich vertrauen könne.« Henrik. Natascha hatte Henrik vertraut. Doch dann war sie dahintergekommen, dass Henrik eine Geliebte hatte. Petra Reber kannte die heiligen Sätze der Macht. Einer davon lautete »divide et impera«: Teile und herrsche. Vielleicht noch besser übersetzt mit »spalte und herrsche«. Sie war sich mit einem Mal sicher, dass Henriks Fehltritt kein Zufall war. Sie war nur nicht sicher, ob es beabsichtigt gewesen war, dass Natascha so bald dahinterkam.
*
Die Temperaturen hatten über Nacht wieder angezogen. Als Natascha ins Freie trat, stockte ihr für einen Moment der Atem. Die Luft war trocken und klar, und ein heller blauer Himmel dehnte sich über die Felder jenseits der Zufahrt. Natascha schritt weit aus. Nach Tagen, die sie im Haus verbracht hatte, über Notizen, Artikel, Bücher und Dokumente gebeugt, brauchte sie dringend Bewegung.
In ihrem alten Zimmer hatte sie noch ein Paar Moon Boots gefunden aus Zeiten, als es als schick galt, hässlich zu sein. Jetzt konnte sie die Ungetüme an den Füßen gut brauchen. Sie marschierte auf dem langen Weg, den die Hundebesitzer der Gegend auf ihren morgendlichen und abendlichen Touren ausgetreten hatten, und versuchte, all die Informationen und Überlegungen in ihrem Kopf zu sortieren. Namen, Lebensläufe, Hintergründe, Organisationen, Parteien, Vereine, Strategien, Interessenverbände, Personalien, Lobbyisten, Einflussbereiche, Finanziers, Subventionen und Subventionsempfänger … Doch es gab keine Ordnung. Die Fülle von Details ließ sich schlicht nicht zu einem stimmigen Gesamtbild fügen. Und je weiter Natascha über die Felder schritt und je mehr sie darüber nachdachte, je verzweifelter sie nach einem Schlüssel suchte, nach dem sich eine innere Struktur in ihren Recherchen erkennen ließ, umso stärker wurde ihre Gewissheit: Die Aufgabe, für die die Kanzlerin sie ausersehen hatte, ihre »inoffizielle« und damit entscheidende Aufgabe, sie war vor allem eines – unlösbar. Natascha hatte fast die ersten Häuser des Ortes erreicht, als sie endlich stehen blieb und das Gesicht der Sonne zuwandte, die über die Wipfel der hohen Tannen strahlte. Auch durch ihre geschlossenen Lider war das Licht gleißend hell, rötlich und so stark, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Unlösbar, dachte sie. Eine unlösbare Aufgabe. War das nicht bizarr? Einen Augenblick lang war Natascha versucht, sich dem Schwindelgefühl hinzugeben und sich einfach rücklings in den Schnee fallen zu lassen. Liegen bleiben, dachte sie, das wäre schön. Im kühlen Weiß. Und die Gedanken langsam einschlafen lassen. Die Impulse in ihrem Gehirn würden langsamer. Der Puls schwächer. Der Blutdruck würde sinken, sie spürte keine Kälte mehr, und doch würde sie erfrieren. Unter der wärmenden Sonne des neuen Jahres.
In der Ferne tauchte ein Mann auf, der seinen Hund von der Leine gelassen hatte. Sie kannte ihn nicht, so wie sie kaum jemanden kannte, der in der Gegend wohnte. Früher, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie Freundinnen gehabt, die dort vorn lebten. Doch die waren längst weggezogen, so wie sie. Und wer nicht weggezogen war, war gestorben. Der Mann kam langsam auf sie zu. Natascha machte kehrt und ging wieder zurück in Richtung ihres Hauses. Sie wusste nicht, was sie jetzt tun würde. Sie wusste nicht einmal, wie sie sich ihr weiteres Leben vorstellte. Das Einzige, was sie wusste, war: Sie würde sich nicht als Marionette benutzen lassen. Endlich war ihr klar, was die Kanzlerin wirklich von ihr erwartete – nämlich ein unauffälliges, leises Scheitern an allen Aufgaben. Für die Kanzlerin war Natascha eine Streubombe. Sie hatte sie kreiert, um nach dem ehernen Gesetz der Politik ihre Herrschaft zu festigen: Spalte und herrsche. Eine Figur wie Staatssekretärin Dr. Eusterbeck musste wie ein Sprengsatz wirken. Allein schon mit ihrer »offiziellen« Aufgabe brachte sie Unfrieden in die Kanzlerbehörde, jeder musste sie als natürlichen Feind betrachten.
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