sich doch moralisch dermaßen überlegen, dass ihm schlecht wurde, wenn er sie sah.
Er knallte die Tür seines Büros hinter sich zu und fuhr den Rechner hoch. Gab den Zugangscode ein und loggte sich ins Intranet des Kanzleramts. Er hatte sich ein bisschen mehr erlaubt, als er gedurft hätte. Da war der Hacker in ihm durchgebrochen, der er früher einmal gewesen war. Zu Studentenzeiten. Er war nie eines dieser Genies gewesen, die in Pentagonakten surften oder spaßeshalber U-Boot-Baupläne an den Kreml mailten. Aber die elektronische Post anderer Leute zu lesen, das beherrschte er dann doch. Vor allem wenn er erst einmal in internen Netzwerken war. Und das war er hier.
Genau genommen war er überrascht, wie langweilig die meisten von Nataschas Kollegen waren. Und das Zeug, das sie einander vertraulich schickten, hätte es meist kaum in die Abendnachrichten geschafft. Im Grunde waren sie doch nur mickrige Erbsenzähler und Wichtigtuer. Dieser Dr. Frey war ein bisschen interessanter, weil er offenbar sehr fleißig auf Waffengeschäfte Einfluss nahm. Und weil er vom Dienstcomputer aus seine Geldgeschäfte in der Schweiz verwaltete. Ein Spieler. Einer, der alles wagte und damit bisher offenbar ziemlich gut fuhr.
Auf Stephanie Wendes Account ging eine Mail von Sicherheitschef Jäger ein. Routinehalber klickte Henrik Eusterbeck darauf und las: »Im Ernst: Schreiben Sie ihr nicht mehr. Ich will keinen Ärger.« Nichts weiter.
Das wunderte ihn. Wem sollte sie nicht mehr schreiben? Und: Weshalb sollte Jäger Ärger kriegen wegen etwas, das Wende einer anderen Person schrieb?
Als sich nichts weiter tat, pflegte Henrik Eusterbeck zunächst neue Daten in die Personenprofile ein, die er angelegt hatte. Mit einer neuen Funktion, die er dem Prinzip der Social Networks nachempfunden hatte, konnte man jetzt in seinem System auf einen Blick die wichtigsten Kontakte sehen, die die betreffenden Personen hatten. Doch dann fiel ihm etwas ein. Er ging noch einmal auf die Festplatte von Stephanie Wendes Computer und durchsuchte sie systematisch nach anderen E-Mail-Programmen. Und tatsächlich fand er einen Hotmail-Account, der nicht auf ihren Namen lautete, sondern auf »Die Pupille«. Neugierig geworden scrollte er den Postausgang durch. Wem hatte sie geschrieben? Und was? Etwas, das Gerhard Jäger so besorgt machte?
DU WIRST HIER NICHT ALT, PRINZESSIN.
NÄCHSTES MAL KOMMST DU NICHT SO LEICHT DAVON, PRINZESSIN.
NEUGIER IST EINE TÖDLICHE DROGE, PRINZESSIN.
BEIM NÄCHSTEN MAL IST ES KEIN FALSCHER ALARM, PRINZESSIN.
DU HAST DIE KLEINE AUF DEM GEWISSEN, PRINZESSIN.
WIE WÄRE ES MAL NACKT VOR DER KAMERA, PRINZESSIN?
HÜBSCHES FOTO. WEISS DEIN MANN SCHON BESCHEID?
Empfänger jeder dieser Mails war
[email protected]. Natascha.
Reflexartig klickte er auf den Dateianhang der letzten Mail. Vielleicht erwartete er kompromittierende Fotos von seiner Frau, er wusste es nicht. Doch was er sah, ließ sein Herz für einen Augenblick stillstehen. Er brauchte einen Moment, um zu erkennen, was da vor ihm schemenhaft abgebildet war. Und doch war es wie ein fehlendes Puzzleteil, mit dem alles sich wie von unsichtbarer Hand zu einem stimmigen Ganzen fügte: Es war das Bild eines Fötus. Eine Aufnahme aus Nataschas Bauch. Schlagartig wurde Henrik klar, in was für einer verrückten Situation sich seine Frau befand, er konnte sich die Launen, die Übelkeiten, die Bauchschmerzen erklären, die er seit Wochen auf den Stress im Job und zuletzt auf diese perfide Abhöraktion zurückgeführt hatte. Ja, alles ergab auf einmal Sinn – und er musste erkennen, dass er ein noch viel größerer Idiot war, als er bisher geglaubt hatte. »Natascha«, flüsterte er. »Was musst du durchgemacht haben.«
Er schloss das Bild wieder, starrte auf den Monitor. Henrik Eusterbeck saß mit angehaltenem Atem im Bundeskanzleramt und konnte kaum glauben, was er las: Jemand hatte seine Frau systematisch unter Druck gesetzt. Nein, nicht »jemand«, Dr. Stephanie Wende war es, die ebenfalls Staatssekretärin im Kanzleramt war.
Prinzessin. Henrik wusste, dass Wolfhardt Lippold seine Tochter immer so genannt hatte. Die Wende musste Natascha bereits im Vorfeld ausgekundschaftet haben, woher sonst sollte sie es wissen. Gab es ein Dossier? Erneut durchforstete Henrik die Festplatte der Staatssekretärin, bis er einen versteckten Ordner fand: »Prinzessin«. Fein säuberlich hatte der Politprofi alle Artikel, Beiträge, Informationen über und von Natascha Eusterbeck