Kalte Macht: Thriller (German Edition)
wählte die Nummer von Gerhard Jäger. »Die Amerikaner haben übernommen«, sagte er nur. Und meinte, am anderen Ende auch Jäger sagen zu hören: »Scheiße.«
Königstein/Taunus, Le-Cannet-Rocheville-Straße, 31.10.1989, 8:41:40 Uhr.
Nachdem der Begleitschutz sich weiterhin nicht von der Stelle bewegt, quält Eck sich aus dem Wagen und humpelt um ihn herum. Erst jetzt erkennt er das ganze Ausmaß der Zerstörung. Die Explosion hat die rechte hintere Hälfte des schweren Fahrzeugs vollkommen zerstört, die Tür ist aus den Angeln gerissen. Dr. Albert Ritter liegt hilflos vor ihm. Er blutet. Wieder wendet sich Eck dem Begleitfahrzeug zu und rudert mit dem unversehrten Arm. Die Kollegen starren ihn entsetzt an, bewegen sich aber weiterhin nicht aus ihrem Fahrzeug. »Herr Dr. Ritter, können Sie mich verstehen?«, keucht Eck, während er versucht, seinen Chef von der Rückbank ins Freie zu zerren. Sein rechter Arm schmerzt, mit dem linken allein ist es hoffnungslos. Ritter bewegt sich kaum. Eck sieht, dass Ritters Oberschenkel bloß liegt, alles ist voll Blut. Es ist kaum zu unterscheiden, wo der Anzug aufhört und die schwarze Wunde anfängt. Schockiert blickt Eck seinem Chef ins Gesicht. Ritter liegt reglos vor ihm, immer noch schwer atmend. Sein Blick ist verständnislos. »Gut, dass Sie wohlauf sind, Eck. Grüßen Sie Ihre Frau von mir.«
»Herr Dr. Ritter, was reden Sie? Helfen Sie mir! Wir müssen hier weg!«
Ritter scheint ihn nicht zu hören. Sein Kopf kippt etwas zur Seite. Er murmelt: »Dabei wäre ich doch zurückgetreten.«
Eck richtet sich verzweifelt auf, dreht sich, nach Hilfe suchend, um die eigene Achse. Ihm ist schwindelig. Ein Gesicht taucht vor ihm auf. Einer der Personenschützer. »Dr. Ritter«, lallt Eck. Dann sinkt er dem Mann in die Arme.
8:43:00 Uhr. Exitus Dr. rer. pol. Albert Ritter. In Nähe des Tatortes findet die Spurensicherung später ein in Klarsichtfolie eingeschweißtes Bekennerschreiben eines Spezialkommandos der RAF . Zwei Tage später trifft beim Verfassungsschutz ein weiteres Bekennerschreiben der Roten-Armee-Fraktion ein. Ein V-Mann des hessischen Verfassungsschutzes wird die These, der Anschlag sei ein Werk der RAF , durch seine Aussage untermauern, die er später aber mit dem Hinweis widerruft, er sei vom Verfassungsschutz unter Drohungen zu seiner Aussage genötigt worden.
VIERZEHN
V o m Fenster am Schreibtisch aus konnte Natascha ein paar Kinder beim Eislaufen beobachten. Sie sah nicht viel, nur ab und zu ein buntes, lachendes Knäuel zwischen den Baumstämmen hindurchschießen. Die mächtigen Tannen verhinderten auch im Winter eine freie Sicht auf den See.
Ob sie selbst es noch wagen konnte, in die Schlittschuhe zu schlüpfen? Immerhin war sie im dritten Monat schwanger. Andererseits fühlte Natascha sich auf Kufen so sicher wie in Hausschuhen. Und etwas Abstand von all dem, was hinter ihr lag, würde ihr guttun. Sie warf einen Blick auf die Stapel von Papieren, auf die Bücher, die Aufzeichnungen, die Artikel und Fotografien. Und auf ihr Manuskript, das sie in den letzten Tagen niedergeschrieben hatte. Mehr als zweihundert Seiten, die ein ganz neues Licht auf die Republik warfen, nein, eigentlich einen Schatten. Tiefschwarz. Ein Albtraum. Allerdings einer, der sich vor mehr als zwanzig Jahren zugetragen hatte. Sie würde nichts mehr daran ändern können. Und sie würde weder sich noch ihr Kind in Gefahr bringen. Die Jagd war vorbei. Sie hatte mehr erfahren, als sie hätte erfahren sollen. Sie war auf die kleinen Geheimnisse angesetzt worden und auf die großen Geheimnisse gestoßen. Sie war dem Ungeheuerlichen auf die Spur gekommen und hatte eine verwegene Theorie bewiesen. Und sie hatte sie niedergeschrieben, hatte in den zurückliegenden Tagen alles bis ins letzte Detail auf Papier gebannt. Sie hatte nicht vor, ihre Aufzeichnungen zu veröffentlichen. Andererseits wusste sie, dass man manchmal eine Lebensversicherung brauchen konnte. Und dieses Manuskript war ihre Lebensversicherung. Man würde nicht damit leben wollen, dass es eine so gefährliche Mitwisserin am größten politischen Verbrechen der Nachkriegszeit gab. Aber man würde damit leben müssen. Morgen würde sie das Manuskript in einen Banktresor legen, dann würde sie die Schlüssel an zwei getrennten Orten hinterlegen und den Code und die Aufbewahrungsorte in einer verschlüsselten Datei in der Cloud mit mehreren Passwörtern hinterlegen. Sie wusste noch nicht genau, wem sie das Passwort für
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