Kalte Macht: Thriller (German Edition)
an Bord herrschte. Immerhin flog die Kanzlerin zu ihrem inzwischen vermutlich hundertsten Krisengipfel, und die Gespräche mit den Franzosen würden nicht einfach werden, woran der Umstand nichts änderte, dass sie den nur äußerlich eitlen Mann durchaus schätzte. Natascha hörte, wie die Kanzlerin ihren treuen Sklaven aufforderte, den Präsidenten zu persiflieren, um sich sogleich vor Lachen auszuschütten. Dabei war Hans Steiner in der Rolle des kleinen Franzosen nicht wirklich gut, sondern nur wirklich lächerlich. Doch die ganze VIP -Lounge lachte beherzt über seine Scherze. Vermutlich lachten sie über Steiner und nicht über seine Darstellung.
»Ich bin überrascht«, raunte Natascha dem neben ihr sitzenden David Berg zu. »Dass Dr. Steiner so eine Spaßkanone ist, hätte ich gar nicht gedacht.«
»Ist er auch nicht«, gluckste Berg leise. »Aber er ist eine großartige Witzfigur.«
»Der Hofnarr der Kanzlerin?«
»Oh nein, Hofnarren waren immer klüger als ihre Fürsten. Deshalb durften sie ihnen auch die Wahrheit sagen.«
»Sie meinen, keiner hier sagt der Kanzlerin die Wahrheit?«
»Keiner sagt ihr die ganze Wahrheit«, erklärte Berg leichthin hinter seiner vorgehaltenen Hand. »Und wenn, dann nur die eigene. Die Alte ist sehr wohl imstande, das dann auf ihre eigenen Belange umzurechnen.«
»Verstehe.«
Natascha Eusterbeck widmete sich einige Zeit dem Aktenstudium. Sie stellte fest, dass ihr einige Dokumente fehlten, die sie ausgedruckt, aber dann wohl auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Sie griff zum Telefon, als ihr David Berg die Hand auf den Arm legte. »Nicht jetzt«, sagte er und nickte zum leeren Platz der Kanzlerin hin.
»Habe ich was verpasst?«, fragte sie irritiert.
»Die Kanzlerin führt gerade ein Gespräch mit dem Präsidenten.«
»Den sieht sie doch gleich.« Natascha sah auf die Uhr. In einer Stunde spätestens würden sie vor dem Élysée vorfahren.
»Dem amerikanischen.«
»Oh.« Sie nahm den Hörer zur Hand. »Aber das hindert mich ja nicht daran, kurz mit meinem Büro zu sprechen.«
David Berg deutete auf ein grellgelbes Schild: » ACHTUNG! Bei Betrieb eines Sprach-/Funkgerätes in Kryptolage ist gleichzeitiger Betrieb mit anderen Sprachgeräten in Klarlage verboten!« Er schenkte ihr ein Lächeln. »Besser, Sie warten noch ein paar Minuten. Es sei denn, Sie möchten verschlüsselt mit Ihrer Sekretärin sprechen. Ich weiß allerdings nicht, ob man diesen bemerkenswerten Satz wirklich umgedreht verstehen darf, nämlich dass man sehr wohl in Kryptolage telefonieren darf.«
Sie kamen nicht mehr dazu, diese Frage zu vertiefen, weil die Kanzlerin plötzlich in der Tür stand und sagte: »Frau Eusterbeck, Herr Steiner und Herr Frey, kommen Sie gerade mal mit in den Besprechungsraum?« Im nächsten Augenblick war sie wieder verschwunden, und der Kanzleramtsminister und sein Staatssekretär folgten ihr auf dem Fuß. Natascha beeilte sich, schnell hinterherzukommen.
Gleich hinter dem VIP -Raum lag der persönliche Besprechungsraum der Kanzlerin, ein fliegendes Konferenzzimmer, in dem sich auf sechs Plätzen meist acht oder neun Menschen zusammendrängten. Natascha kam ganz am Rand zu sitzen. Sie musste sich vorbeugen, um die Kanzlerin, die am anderen Ende ihrer Bank saß, überhaupt sehen zu können. Direkt dahinter erblickte sie durch das Fenster einen strahlend blauen Himmel und die sacht zitternde Tragfläche, auf der das Bundeswehrkreuz prangte. Sie wunderte sich, dass man ein solches Kreuz auch oben aufgemalt hatte. An sich war das unsinnig, denn ein Flugzeug sah man ja fast immer nur von der Seite oder eben von unten. Aber vielleicht galt das Symbol ja den Passagieren, die sich zu jeder Zeit bewusst sein sollten, dass sie in einem offiziellen Staatsflugzeug reisten.
»Danke, dass Sie die Reise mitmachen«, richtete die Kanzlerin an die anwesenden vier Journalisten das Wort, die mit glühenden Wangen auf der gegenüberliegenden Bank saßen und ihre Diktiergeräte und Blocks gezückt hatten. »Das ist ja heute keine ganz einfache Reise. Paris. Da werden uns einige Forderungen erwarten, die wir nicht erfüllen können. Der französische Präsident ist offenbar der Meinung, dass wir seine Banken dringend retten müssen, auch wenn dafür unsere untergehen. Es wird Sie nicht überraschen, dass wir das etwas anders sehen. In der gegenwärtigen Schuldenkrise kommt es auf Augenmaß an.«
»Haben Sie denn ein Angebot in der Tasche?«, fragte der Reporter des Tagesspiegels
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