Kalte Spur
Nach Lage der Dinge aber hatten sie über seinen Aufenthaltsort keine genaueren Vorstellungen als Joe.
Der Punkt »Verstörte Personen« verdiente eingehendere Überlegungen, und er markierte ihn mit einem Stern. Ein Wahnsinniger (oder auch mehrere) mit scharfen Messern erschien ihm am wahrscheinlichsten. Womöglich hatte der Übeltäter monate- oder jahrelang an Tieren geübt, ohne Verdacht zu erregen. Vielleicht hatte er mit Kleinvieh begonnen und seine Technik vervollkommnet. Und dann war er die Nahrungskette hinaufgewandert: ein Pronghorn oder Hirsch zunächst, dann eine Kuh, ein Pferd. Ohne die Atmosphäre von Misstrauen und Verdacht, die nun herrschte, hätte der einsame Tod einzelner Tiere keine Aufmerksamkeit erregt. Ein verstümmelter Kadaver unterschied sich, ob sich nun Aasfresser über ihn hergemacht hatten oder nicht, von einem auf natürliche Weise ums Leben gekommenen Tier nach einigen Wochen der Verwesung nicht mehr allzu sehr. Vielleicht kam es in seinem Revier seit Jahren zu solchen Vorfällen. Wie viele Kadaver hatte er seit seinem Amtsantritt am Straßenrand, in Gräben, auf Deponien gesehen? Hunderte!
Irgendwann hatten die Tiere dem Killer nicht mehr genügt, und er war dazu übergegangen, Menschen zu töten. Dabei hatte er sich nicht mit einem Opfer begnügt, sondern in einer Nacht zwei Männer getötet. Eine blutige Explosion war das gewesen, doch was war da in die Luft gegangen?
Beide Männer waren an einem abgelegenen Ort getötet
worden, der in Montegues Fall über private Staubstraßen, in Stuart Tanners Fall über weit vom Schuss gelegene Kreisstraßen zugänglich war. Wie lange brauchte man, um von einem Tatort zum anderen zu fahren? Etwa anderthalb Stunden, wenn man nirgends hielt. Der Killer war also vermutlich ein Einheimischer und kannte sich gut aus.
Joe überlegte, welche Art Mensch zu so etwas fähig sein mochte, und versuchte, ihn sich bildlich vorzustellen – vergeblich.
Ihm schwirrte der Kopf.
Handelte es sich um denselben Täter, der in den 70er Jahren Rinder verunstaltet hatte? Und wenn ja: Warum hatte er über dreißig Jahre pausiert und nun wieder angefangen? Hatte er sich in der Zwischenzeit mit der Tötung und Verstümmelung von Wild begnügt, mit dem Elchbullen zum Beispiel, den Joe gefunden hatte, oder mit Übergriffen wie in Montana?
Und warum hatte er gerade jetzt die nächste Stufe erklommen? Da Joe und die Arbeitsgruppe praktisch keine Spuren hatten (auch wenn Barnum der Öffentlichkeit etwas anderes erzählen mochte): Wie konnte er gestoppt werden?
Joe starrte auf die Breaklands hinaus. Das schwache Kopfweh, das vor einer Stunde hinter dem linken Ohr begonnen hatte, war zu einem fast migräneartigen Schmerz geworden. Je mehr er über die Tötungen nachdachte, umso schlimmer wurde es.
Der Fall sollte von jemandem übernommen werden, der sehr viel klüger ist als ich, dachte er.
Die Sonne würde erst in zwei Stunden hinter den Bergen versinken, doch die Salbei-Ebene und die roten kleinen Canyons begannen schon zu leuchten. Pappel- und Espengehölze
pulsierten in den Tönen des Herbsts. Joe liebte den Spätnachmittag auf der Hochebene, wenn die Sonne der Landschaft üppige Farben und Dramatik verlieh.
Er schob das Notizbuch in die Tasche, stieg in seinen Pick-up und fuhr mit kopfschmerzverdüstertem Blick weiter hinauf ins Gebirge, hinein in den Wald.
Mit geöffneten Fenstern fuhr Joe langsam die Wege ab. Als es dunkel wurde, hatte er die Schleichlichter unter der vorderen Stoßstange eingeschaltet, die nur die Fahrbahn direkt vor den Rädern erleuchteten. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern war er für Jäger oder Fahrzeuge beinahe unsichtbar, bis er sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand.
Einen knappen Kilometer vor der Abzweigung zur Hazelton Road traten zwei Jäger in Tarnanzügen im schwachen Licht der Walddämmerung auf die Straße.
Joe merkte ihrer Körpersprache an, dass er sie überrascht hatte. Mit zusammengesteckten Köpfen berieten sie sich, als er auf sie zukam. Er winkte, hielt an, setzte seinen Stetson auf und schwang sich aus dem Wagen. Bevor er die Tür schloss, griff er ins Führerhaus und schaltete das Fernlicht ein. Sich Bewaffneten mit den Scheinwerfern im Rücken zu nähern, war eine Taktik, die er im Laufe unzähliger ähnlicher Begegnungen erlernt hatte.
Er erkannte rasch, dass es sich um Bogenschützen auf Wapitijagd handelte. Gesichter und Handrücken waren grün und schwarz bemalt, in den Seitenköchern trugen sie
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