Kalte Zeiten - Toporski, W: Kalte Zeiten
denen sie glücklich ist.
Heute Nacht gab es draußen ein wildes Geballere und Geschieße. Wir hatten alle Angst, jetzt gingen hier wieder Kämpfe los oder sie hätten mit uns irgendetwas vor. Aber dann hörten wir auch Freudengebrüll, und aus den Rufen verstanden wir, dass der Krieg aus ist. Deutschland hat ihn verloren, das ist klar, aber vielleicht dürfen wir jetzt trotzdem bald nach Hause. Mama ist da skeptisch. Sie meint, dass in Polen noch immer die Russen das Sagen haben und man könne nie wissen, was die sich noch ausdenken. Aber vorsichtig hoffen kann man doch mal, oder?
Da haben wir’s: Eine neue Verordnung ist herausgekommen – Kinder ab sechs Jahren müssen arbeiten. Und da bin ich ja wohl um einiges älter!
Keiner weiß so recht, was das bedeutet. Ist damit schwere Feldarbeit gemeint wie bei den Frauen? Bleiben wir hier? Oder kommen wir ganz woanders hin? – Wir alle fürchten wieder, dass die Kinder von ihren Müttern getrennt werden.
»Dem komme ich zuvor«, sagt Mama.
»Es nützt ja doch nichts«, hört sie von den anderen.
»Wenigstens versuchen will ich es!«
Sie hat vor, mit dem Gärtner zu reden, ob der Huppe und mich brauchen kann. Oder ob er jemand anderes weiß.
Wie hell es jetzt morgens schon ist! Ich habe gerade mein viel zu kleines Stückchen Brot gegessen, als die Tür aufgeht und eine junge Frau hereinkommt. Sie geht auf Mama zu und begrüßt sie. Ich habe keine Ahnung, wer das ist.
Dann aber beugt sie sich zu mir und fragt: »Jestem Władka. Pòjdziesz ze mng?« 8
Ich verstehe kein Wort, und dass es eine Frage ist, höre ich nur am Tonfall. Aber eines merke ich sofort: Die Augen der Frau sind freundlich. Seit der Flucht habe ich mir angewöhnt, Fremden als Allererstes in die Augen zu gucken. Ganz schnell kann ich unterscheiden, ob einer Gutes oder Böses im Schilde führt, und es gibt mir immer einen Vorsprung, wenn ich schneller weiß, was gespielt wird, als mein Gegenüber. Diese Frau mag ich auf Anhieb, und als Mama mir erklärt, dass sie es sei, bei der ich von jetzt an arbeiten soll, bin ich ohne zu zögern einverstanden. Wir gehen durch das Dorf bis zu einem einzeln stehenden Haus, einer Schreinerei.
»Serdecznie witamy, jestem Michał!«**, begrüßt mich ein Mann. Wieder verstehe ich kein Wort, aber der Schreiner hat genauso freundliche Augen wie seine Frau. Ich bin ein bisschen verlegen, und als er es bemerkt, sagt er lachend: »Jakoś będzie!«***
Sicherheitshalber mache ich einen Knicks.
Ein bisschen hat es zwar gedauert, bis ich begriff, was Władka und Micha mir mit Händen und Füßen zu erklären versuchten. Aber dann ging mir ein Licht auf, und nun stehe ich hier mit Anna, ihrer Kuh, am Strick und lasse sie die grasbewachsenen Straßenränder abweiden. Anna ist ein gutmütiges Tier, das freundlich neben mir hertrottet und mir das Leben nicht schwer macht. Sie kennt ihren Weg selber und geht ganz von allein die Straßenränder auf und ab. Es macht ein lustiges Geräusch, wenn sie das Gras abrupft, und zwischendrin schnauft sie immer wieder mal laut.
Es ist ein herrlicher Frühlingstag! Die Wiesen sind grün und voller Blumen, die Apfelbäume an der Landstraße stehen in voller Blüte und die Bienen summen Honig suchend darin herum. Ich bin richtig glücklich!
Ich habe es mir unter einem Apfelbaum bequem gemacht und lasse Anna grasen. Zum Weglaufen scheint sie mir wenig Neigung zu haben. Mein Maulbeerbaum, denke ich, ob er wohl noch steht? Wie gerne würde ich hingehen und nachsehen, aber wir dürfen uns hier nicht frei bewegen. Und wenn man mich dabei erwischen würde, wer weiß, was dann passieren würde! Doch es ist schön, an ihn zu denken – und dabei ein wenig von der Geborgenheit zu empfinden, die ich von ihm immer empfangen habe.
Über Mittag macht Anna Pause. Sie legt sich aufs Gras, rülpst vor sich hin und käut in aller Ruhe wieder. Ich lege meinen Kopf an ihren weichen Kuhbauch, kaue an einem Grashalm und schaue den Wolken nach: Wann habe ich es zuletzt so gut gehabt? Ich muss an die roten Spinnen denken, halte im Gras Ausschau nach ihnen, aber die kann es jetzt noch nicht geben, es ist noch zu früh im Jahr.
Irgendwann muss ich in der warmen Mittagssonne eingeschlafen sein. Jedenfalls wache ich erst auf, als Anna anfängt aufzustehen. Ich weiß gar nicht, was los ist, und muss erst einmal begreifen, wo ich bin. Aber dann freue ich mich wieder, dass ich endlich aus dem öden Kohlenkeller heraus bin.
Am späteren Nachmittag
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