Kalter Amok
Ziehen an der Zigarre, strafte seine innere Erregung Lügen.
»Mir fällt da eine Stelle ein, die ich in einem der Bücher meines Vaters unterstrichen habe. Es war ein Zitat von Richter Brandeis, das mir merkwürdig vorgekommen war und das sonderbarerweise in Konflikt steht mit den ganz anderen Ideen von Carl Jung. Brandeis schreibt von der Gefahr, bei der wir uns von unseren Vorurteilen so sehr täuschen lassen, daß wir ihnen den Status gesetzlicher Prinzipien verleihen. Er schreibt: ›Wenn wir uns vom Licht der Vernunft leiten lassen, müssen wir in Gedanken kühl und gelassen sein.‹ Ich fragte mich und frage mich heute noch, ob ein kühler Kopf wirklich so erstrebenswert ist. Ich vermute, daß wir hinter diesen Morden einen sehr vernünftigen Mann entdecken werden, einen, dessen Kopf so kühl ist, daß ihn nicht einmal die Leidenschaft des Mordes zu erwärmen vermag.«
Nina schwieg eine ganze Weile. Sie stand einfach neben ihm, ihren Arm unter dem seinen, den Kopf leicht nach vorn geneigt. Im Licht, das durch die Fenster des Speisezimmers herausfiel auf die Terrasse, kam ein dicker Frosch aus dem Schatten hervor. Er setzte sich gelassen ins Licht, als ob er aus der Kulisse auf die Bühne gehüpft wäre, der erste Schauspieler auf der Szene, der allein darauf warten muß, daß das Spiel beginnt. Auch Cinco sah ihn, aber er hatte schon oft mit Fröschen gespielt und keine Lust, sich in seinem Alter noch damit zu befassen. Außerdem war er schläfrig vom Wein. Der Frosch quakte einmal, ein seltsames Selbstgespräch im Rampenlicht, das beim Collie, der mit gekreuzten Pfoten in den Schatten der gegenüberliegenden Kulisse lag, nur ein Gähnen hervorrief. Da keine weitere Aktion und auch kein Dialog zu erwarten waren, sprang der Frosch an Cinco vorbei wieder ins Dunkel.
»Es ist also ein außergewöhnlicher Fall«, sagte sie, und es war keine Frage.
»Ja, außergewöhnlich.«
»Und warum?«
Er schaute einem Rauchwölkchen nach, das sachte von ihm wegtrieb, bis es in der Dunkelheit aufging.
»Ich spüre, daß von dieser Person Übel ausgeht«, sagte er. »Ein Gefühl, das man nicht ignorieren kann. Es folgt einem wie eine Vorahnung, ein drohendes Unwohlsein, das einen mitten in der Nacht aufwachen und mit klopfendem Herzen daliegen läßt, wobei man sich fragt, warum man aufgewacht ist, und ganz genau weiß, daß etwas im Dunkeln steht und auf einen lauert. Es ist die beste Gelegenheit, einem Aspekt des eigenen Ichs zu begegnen, den man nicht leugnen oder unterdrücken sollte. Die Begegnung mit dem Bösen in solcher Reinheit ist so, wie wenn man sich einem Meilenstein in der Psychoanalyse nähert. Es ist archetypisch: Man sieht sich Auge in Auge mit einem Teil von sich selbst.«
»Ein Teil von dir selbst?«
»Ja. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll, aber so kommt es mir vor.«
»Das ist erschreckend.«
»Genau.«
»Hast du mit Leo und Ed darüber gesprochen?«
»Natürlich nicht.«
»Mit Van?«
»Wir haben schon früher dieses Thema berührt.«
»Und was meint er dazu?«
Haydon stieß ein amüsiertes Brummen aus. »Das willst du bestimmt nicht wissen.«
»Es ist sonderbar«, sagte sie nach einer Pause. »Je länger ich dich kenne, desto weniger verstehe ich dich. Eigentlich sollte es genau entgegengesetzt laufen.«
»Ich habe oft dasselbe von dir gedacht.«
»Wirklich? Das kann ich nicht glauben.«
»Es ist wahr. Und es beweist nur, wieviel an uns allen dran ist. Ich bin sicher, es gibt größere Dimensionen, als wir sie uns vorstellen können, aber uns fehlt der Blick dafür.«
Sie drückte sich an ihn, kuschelte sich beinahe an seinen Körper.
»Stuart, sitzt du jemals da und denkst an gar nichts?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, gestattest du jemals deinen Gedanken, daß sie sich entspannen?«
Er schnippte den Rest seiner Zigarre hinaus auf das feuchte Gras, wo die Glut ein paar Sekunden lang wie ein brennendes Auge zu sehen war, bevor sie erlosch.
»Niemals«, sagte er.
»Das habe ich befürchtet.« Sie lachte.
Er wandte sich ihr zu und küßte sie leicht auf die Lippen. Sie stieß ein wohliges Stöhnen aus und erwiderte den Kuß, dann riß sie sich los.
»Du stinkst«, sagte sie.
»Nicht ich, die Zigarre.«
»Das habe ich gemeint.«
»Ach.«
»Ich weiß nicht, ob ich dich jetzt dazu verführen soll, hierzubleiben, und damit riskiere, daß du in den frühen Morgenstunden, wenn ich eingeschlafen bin, aufstehst – oder ob ich dich lieber gleich aus dem Haus jagen soll,
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