Kalter Mond
nichts über ihn, außer dass er aus einem Reservat irgendwo im Norden kam.
Er lächelte, so dass diese perfekten Zähne im Licht des Feuers blinkten. »Ihr wollt was über mich hören? Gut, ich sag’s euch. Aber als Erstes müsst ihr natürlich Folgendes wissen.« Er zog seine Brieftasche heraus und schnippte eine Karte auf den Tisch.
Kevin hob sie auf. Es war ein Status-Ausweis, ausgestellt von der Behörde für indianische Angelegenheiten, die bescheinigte, dass Raymond Red Bear ein Angehöriger der Chippewa First Nation am Red Lake war, die am jenseitigen Ufer des Lake Superior angesiedelt war und sich eines Klimas rühmte, gegen das Algonquin Bay das reinste Florida war.
Die Flammen flackerten über Red Bears Gesicht wie ein Bühneneffekt. Seine Stimme war so leise, dass sie fast im Plätschern des Wassers unterging.
»Das Leben im Reservat«, sagte er, »war kalt. Hart. Unser Haus war nie ausreichend geheizt. Es war nie genug Essen imKühlschrank. Jeden Morgen bildeten sich Eisblumen an den Schlafzimmerfenstern.«
Red Bear schwieg und starrte ins Feuer. Eine Zeit lang sagte niemand etwas.
Schließlich fragte Leon: »Erzählst du uns mehr?«
Red Bear schüttelte den Kopf. »Würde ich gerne. Ich vertraue euch. Ich vertraue euch allen.« Er sah sie der Reihe nach an – Leon, Kevin und Toof. »Aber es gibt Dinge, über die ich nicht sprechen darf. Und andere Dinge, für die es verfrüht wäre, sie euch zu erzählen. Es gibt ein Wissen, das nur wenige teilen dürfen.«
Kevin wollte weg, ins Bett und schlafen. Die Stimmung wurde zu seltsam.
Red Bear lächelte. »Keine Sorge«, sagte er. »In ein, zwei Wochen werde ich ein Opfer bringen, und dann wissen wir genau, wie wir unserem Schicksal eine Wendung geben können.«
»Opfer?«
»Sag jetzt nichts, Kevin. Ihr werdet sehr bald wissen, was ich meine.«
Leon schnippte seine Zigarettenkippe ins Feuer. »Bedeutet dieses Opfer, dass ich mal die Main Street langlaufen kann, ohne Angst zu haben, dass ich von Bikern zur Sau gemacht werde?«
»Allerdings, das garantiere ich euch. Wenn die Dinge so laufen, wie ich es erwarte, kriegen die Biker das große Zittern, sobald sie euch nur von weitem sehen.«
»Zu Recht, Mann«, sagte Leon. »So sollte es sein.«
9
E ine Woche nach diesem feierlichen Abend am Ufer treffen sie sich zu viert am Rosebud Diner, einem schmuddeligen Lokal am südlichen Ausläufer der Stadt in der Nähe von Reed’s Falls. Red Bear, Kevin, Leon und Toof. Toof macht ein beschämtes Gesicht, weil er sich auf dem Weg zum Rosebud – einem Laden, in dem er nach Kevins Schätzung schon mindestens dreimal gewesen ist – verlaufen hat und die anderen auf ihn warten mussten. Red Bear sagt nichts, sondern starrt Toof nur mit diesen Husky-Augen an. Dann nimmt er sie mit in den Wald.
Zuerst folgen sie der Reihe von Masten über den Hügel, dann schwenken sie auf einen um diese Jahreszeit unbenutzten Pfad für Schneemobile ein. Nach ein paar hundert Metern biegen sie auf etwas ein, das wohl ein Pfad sein soll, was man aber dazusagen muss, denn er ist kaum begehbarer als das dickste Gestrüpp rundum. Irgendwann kommen sie auf eine felsige Lichtung auf einer Kuppe.
Red Bear ließ sie ein Altarfeuer aufbauen, wie er es ihnen das letzte Mal gezeigt hatte. Er wies auf den fast vollen Mond. »Ideal«, sagte er. »Einfach ideal.« Er trug Wildlederhose und Weste, beides mit Fransen versehen, dazu an der Weste feine Perlenstickerei. Hollywood-Indianer, dachte Kevin, an jedem anderen Mann völlig deplatziert, aber nicht an Red Bear. An seinem Gürtel klapperte eine Feldflasche neben einem langen Messer in Wildlederscheide.
Red Bear verharrte, bis das Feuer loderte.
»Unser Opfer wartet auf der anderen Seite des Hügels. Ihr drei bleibt hier und rührt euch nicht – egal, was ihr hört –rührt euch nicht. Vielleicht hört ihr auch gar nichts. Wenn ich zurückkomme, werde ich einen Ritualtanz vollziehen. Falls das für euch zu seltsam ist, falls ihr euch nicht für andere Kulturen und Gebräuche öffnen könnt, dann möchte ich euch bitten, jetzt zu gehen. Jetzt zu gehen und nie wiederzukommen.«
Niemand rührte sich.
»Falls ihr jedoch bleibt, dürft ihr niemals mit irgendjemandem darüber sprechen, habt ihr verstanden?«
Red Bear trat so dicht an Kevin heran, dass nur wenige Zentimeter ihre Gesichter trennten; der Blick in seinen hellen Augen schien entrückt. »Verstehst du?«
»Ja, sicher. Ich hab verstanden. Ich bleibe.«
Dasselbe machte
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