Kalter Süden
entdecken und klopfte so laut, dass ihre Knöchel schmerzten.
Die Tür wurde mit solchem Schwung geöffnet, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat.
»Guten Tag«, sagte sie schüchtern und streckte ihrem Gegenüber die Hand hin. »Schön, dass Sie Zeit für mich haben.«
Der junge Mann war wirklich sehr jung. Er trug ein gutgebügeltes Hemd und eine Krawatte, eine Anzughose und glänzende Lederschuhe. Seine Gesichtszüge entspannten sich, als er sie in Augenschein nahm. Offenbar ging von ihr keine Gefahr aus.
»Henry Hollister«, stellte er sich vor und klang gleich viel weniger ungeduldig.
»Ich habe noch nie juristischen Beistand gebraucht. Es ist mir ziemlich unangenehm.«
»Kommen Sie herein«, sagte er und ging einen Schritt zur Seite, so dass sie die Kanzlei betreten konnte.
Es sah aus wie eine alte Wohnung, an der man nicht viel verändert hatte, als sie zum Büro umfunktioniert wurde. Alle Türen standen offen, drei kleinere Zimmer auf der rechten Seite, geradeaus die Küche und links ein größerer Raum. Es war vollkommen still. Außer dem jungen Amerikaner schien niemand da zu sein. Es roch nach Kaffee und ungelüfteten Kleidern.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«, fragte Henry Hollister.
»Nein, danke. Nicht nötig«, sagte Annika.
Der junge Mann bat sie in den Raum zur Linken. Es war ein Konferenzraum, dem von Stig Seidenfaden sehr ähnlich. Anscheinend empfingen die Anwälte in Gibraltar ihre Klienten nie in ihren Büros.
Sie nahmen am Tisch Platz, dann legte Henry Hollister die Stirn in tiefe Falten und verschränkte die Finger.
»Also«, begann er. »Womit kann ich Ihnen helfen?«
»Eigentlich bin gar nicht ich in der Klemme«, sagte Annika. »Es geht um meinen Bruder. Er ist wegen Drogenbesitz festgenommen worden. Haschisch.«
Es entstand eine plötzliche Stille. Der Mann sah sie an und blinzelte mehrmals.
»Wegen Besitz von Haschisch? Wo?«
»In Puerto Banús«, sagte Annika.
»Aber nach spanischer Rechtsprechung ist der Besitz nicht strafbar.«
Shit, shit, shit. Das hatte sie nicht gewusst.
»Die Polizei beschuldigt ihn, dass er es weiterverkaufen wollte«, sagte sie.
»Um wie viel Cannabis handelt es sich denn?«
Sie schluckte.
»Vier Kilo«, entschied sie schließlich.
Wieder musste der junge Mann zwinkern. Er lehnte sich zurück.
»Tja«, sagte er, »dann ist es natürlich schwer, auf Eigenbedarf zu plädieren. Tut mir leid, aber damit kann ich …«
Annika beugte sich vor und griff nach seiner Hand.
»Sie müssen mir helfen«, sagte sie. »Er sitzt in einem schrecklichen Knast in Málaga, in einem polígono in der Nähe des Flughafens …«
Henry Hollister zog verschreckt die Hand zurück.
»Ich kenne dieses Gefängnis«, sagte er. »Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin kein Anwalt, sondern nur Legal Assistant . Ich habe keine Befugnis, aktiv zu beraten. Ich halte hier doch in der Zwischenzeit nur die Stellung.«
Annika sah ihn abwartend an.
»Sie halten die Stellung?«
»Ja, bis der neue Besitzer kommt.«
»Ist die Firma verkauft?«
»Sie wurde innerhalb des Konzerns übernommen.«
Hört, hört, innerhalb des Konzerns.
Sie schluchzte ein bisschen.
»Die Untersuchungshaft in Spanien zieht sich so unendlich. Mein Bruder wird über Jahre dort festsitzen, wenn ich nichts unternehme. Wie lange muss ich warten?«
»Es stehen nur noch ein paar Formalitäten aus, bis der Besitzer runterkommen kann. Das dauert vielleicht einen Monat oder sechs Wochen.«
»Warum kann er denn nicht früher kommen?«
Die Frage schien dem jungen Mann unbehaglich zu sein.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht.«
Annika seufzte tief.
»Die Sache mit Veronica ist ja so tragisch«, sagte sie. »Wenn nur dieser schreckliche Einbruch nicht passiert wäre. Sie hätte das Ganze in null Komma nichts geregelt.«
Der Mann sah sie fragend an.
»Glauben Sie das wirklich?«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass sie sich mit spanischer Kleinkriminalität befasst hat.«
Annika machte ein verwundertes Gesicht.
»Ach, nicht? Ich hab das immer geglaubt. Sie war doch immer so viel unterwegs. Was hat sie denn den ganzen Tag gemacht?«
»Veronica war hauptsächlich als Wirtschaftsjuristin tätig, hat Verträge aufgesetzt und verschiedene internationale Konzerne vertreten.«
»Ach so«, sagte Annika und versuchte, enttäuscht zu tun. »Ich dachte, sie würde unschuldige Menschen verteidigen, wie meinen Bruder. Das stand doch auch auf dem Schild unten an der Tür – Legal
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