Kalter Süden
sehnte sich tatsächlich nach ihrer Wohnung. Nach den Räumen, in die sie noch nicht richtig eingezogen war, nach der Kaffeemaschine in der sterilen Küche, nach dem Haufen ungelesener Taschenbücher auf dem Wohnzimmerfußboden und dem Duft der Kinder in der Bettwäsche.
Ihr war nicht klar gewesen, wie heimatlos sie sich in der vorübergehend gemieteten Bürowohnung in Gamla Stan gefühlt hatte. Sie war froh, wieder auf Kungsholmen zu wohnen.
Aus irgendeinem Grund tauchte plötzlich das Bild von Julia Lindholm in ihr auf.
Julia war genauso lange heimatlos gewesen wie sie.
In derselben Nacht, in der ihr Haus abbrannte, war Julia festgenommen und wegen Mordes an ihrem Mann ins Gefängnis gesteckt worden.
Annika ließ ihren Blick über die Boote schweifen, die unrhythmisch im scharfen Wind auf und ab tanzten.
Julia und Alexander würden noch einige Monate in dem ungemütlichen Familienheim am Lejondalssjön festsitzen. Wie würde es sich für sie anfühlen, in die Dreizimmerwohnung auf Söder zurückzukehren, in der David erschossen worden war?
Als müssten sie in einen Alptraum einziehen, dachte Annika. So hätte ich mich gefühlt, wenn ich in die abgebrannte Ruine im Vinterviksvägen zurückgegangen wäre.
Sie schüttelte sich.
Die Bar hatte sich mittlerweile gefüllt. Vier Blondinen hatten sich an einem der Fenstertische niedergelassen und genehmigten sich den ersten tinto de verano des Tages. Ein paar englische Fußballfans tranken das spanische Bier direkt aus der Flasche, und ein Stück weiter hinten saßen zwei junge Mädchen und kicherten über eine Meldung in der Tageszeitung.
Annika erhob sich, um an der Theke zu bezahlen. Sie gab dem Mann an der Kasse einen Fünfzig-Euro-Schein, drehte sich um und sah den Passanten nach.
Der Mann legte ein bisschen Kleingeld neben ihren Ellbogen.
Sie betrachtete den kleinen Schotterhaufen.
»Entschuldigung«, sagte sie und zeigte auf die Münzen. »Müsste ich nicht auch noch ein paar Scheine zurückbekommen?«
Der Mann sah sie an und zuckte die Achseln.
»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, erwiderte er und drehte sich um.
Annika merkte, wie die Wut in ihr hochstieg.
»Moment mal«, protestierte sie jetzt lauter. »Ich habe mit einem Fünfziger bezahlt!«
Der Mann war plötzlich unglaublich beschäftigt und wandte ihr den Rücken zu. Seine muskulösen Schultern spielten unter dem schwarzen T-Shirt. Vermutlich stählte er sich mit anabolen Steroiden.
»Geben Sie mir mein Wechselgeld!«, verlangte sie laut und wütend.
Es war vollkommen still in der Bar geworden. Ein Paar kam durch die Tür und hielt nach einem Sitzplatz Ausschau.
»Bleiben Sie nicht hier!«, rief Annika ihnen zu. »Hier werden die Leute um ihr Wechselgeld betrogen.«
»Schnauze!«, zischte der Mann und warf ihr zwei Zwanzig-Euro-Scheine hin.
»Verdammter Halsabschneider«, schimpfte Annika auf Schwedisch, steckte ihre Scheine ein und ging. Als sie wieder auf dem Kai stand, klingelte ihr Handy.
Es war Berit.
»Na, wie geht’s denn so in der Sonne?«
»Gerade wäre ich in so einer blöden Scheißbar beinahe um 400 Kronen Wechselgeld geprellt worden.«
Mit entschlossenen Schritten ließ sie die Sinatra Bar hinter sich.
»Mach sie fertig«, sagte Berit. »Wie läuft es mit dem verschwundenen Mädchen? Ich habe gesehen, dass ihre Mutter unten bei dir ist. Können wir dir von hier aus noch etwas abnehmen?«
»Vielleicht ihre Freundinnen in Bromma«, sagte Annika. »Obwohl ich die schon über Facebook kontaktiert habe. Sie haben sich aber noch nicht gemeldet.«
»Facebook?«, sagte Berit. »Ich habe im Wirtschaftsteil gelesen, dass Facebook schon wieder out ist.«
»Klar«, sagte Annika, »wenn ich endlich auch Mitglied werde, ist die Sache natürlich out. Du, ich musste vorhin an Julia Lindholm denken, gibt es was Neues über Filip Anderssons Wiederaufnahmeverfahren?«
»Das dauert sicher ein paar Monate«, sagte Berit. »Sie müssen eine Menge Material sichten. Die Voruntersuchung umfasst über tausend Seiten. Umständlich und voller Ungereimtheiten und Löcher. Es gab Kritiker, die schon Justizmord geschrien haben, als das Urteil des Amtsgerichts erging.«
»Wusstest du, dass Filip Andersson eine Schwester hat, die Polizistin ist?«, fragte Annika. »Nina Hoffman, Julia Lindholms beste Freundin …«
»Die ist Filip Anderssons Schwester? Das wusste ich nicht.«
»Findest du es nicht merkwürdig, dass zwei so durch und durch Kriminelle wie Filip Andersson und Yvonne Nordin
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