Kaltes Blut
näher traten, eine gemütliche Sitzecke mit vier Sesseln, ein Teppich und mehrere Bilder von Edward Hopper und James Rizzi, vielleicht echt, vielleicht auch nur besonders gute Replikate. Alles war sehr sauber, doch nicht steril, wie sie es schon oft in anderen derartigen Häusern gesehen hatte. Hier war Leben, hier fühlte sie sich vom ersten Moment an wohl, auch wenn die Umstände ihres Besuchs alles andere als angenehm waren.
Durant und Hellmer nahmen kurz die ersten Eindrücke auf und sahen zu der schlanken Frau, die die Beamten erwartungsvoll anschaute. Sie saß auf der Ledercouch, die Hände gefaltet, das Gesicht regungslos, der gleiche stumpfe Blick wie bei ihrem Mann. Durant schätzte sie auf Mitte dreißig, auf keinen Fall älter, das Gesicht faltenlos, kurze blonde Haare, blaue Augen, wohlgeformte, jetzt blutleere Lippen, leicht hervorstehende Wangenknochen, die ihr etwas Apartes verliehen, eine Frau, der Männer sicher mehr als nur einen Blick hinterherwarfen.
»Helga, das sind zwei Beamte von der Polizei. Sie möchten gerne mit uns sprechen. Herrn Hellmer kennst du ja sicher, und das ist Frau Durant.«
Sie nickte und versuchte zu lächeln, was ihr jedoch nur ansatzweise gelang. Julia Durant vermochte sich einigermaßen in ihre Lage zu versetzen, zu oft schon hatte sie in den vergangenen Jahren mit ähnlichen Fällen zu tun gehabt, wenn die scheinbar so heile Welt mit einem Mal zu einem bösen Albtraum wurde. Und für diese Familie schien die Welt bis vor wenigen Stunden tatsächlich noch heil gewesen zu sein. Sowohl der Mann als auch die Frau waren Durant auf den ersten Blick sympathisch, und obgleich zurzeit eine angespannte, ängstliche Atmosphäre herrschte, strahlte alles in diesem Haus Ruhe und Freundlichkeit aus. Sie fragte sich, was wohl passieren würde, sollte Selina tatsächlich etwaszugestoßen sein. Wie würden die Eltern reagieren? Vermutlich nicht anders als die Eltern anderer verschwundener Kinder, denen mit einem Mal ein wesentlicher Teil ihres Lebens genommen wurde. Weinen, Zusammenbruch, Leere. Sie kannte es, hatte es schon einige Male erleben müssen, und es hatte jedes Mal einen nachhaltigen Eindruck bei ihr hinterlassen. Auch die Haltung der Frau, dieses Verkrampfte, die gefalteten Hände, als würde sie ein Stoßgebet nach dem andern zum Himmel schicken, war ihr vertraut. Es war, als hoffte sie auf etwas, von dem sie ganz tief in ihrem Innern wusste, dass es doch nicht eintreten würde. Die Intuition einer Frau, die ihr sagte, dass irgendwann eine Nachricht kommen würde, die Nachricht, die auch den letzten Funken Hoffnung zunichte machte.
»Bitte«, sagte Peter Kautz und deutete auf zwei Sessel, während er sich zu seiner Frau setzte, um im nächsten Augenblick zu fragen, ob er den Beamten etwas zu trinken anbieten dürfe.
»Nein, danke, machen Sie sich keine Umstände. Wir haben nur ein paar Fragen zu Ihrer Tochter«, sagte Hellmer.
»Ja, natürlich. Meine Frau und ich stehen Ihnen zur Verfügung.«
»Danke.« Julia Durant nahm in einem der Sessel Platz. Sie stellte ihre Tasche neben sich, beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, die Hände aneinander gelegt.
»Wir haben das Protokoll gelesen, müssten aber trotzdem noch etwas mehr über Ihre Tochter wissen. Sie haben angegeben, sie zuletzt gestern Nachmittag gegen siebzehn Uhr gesehen zu haben. Ist das richtig?«
Helga Kautz nickte, sah die Kommissarin an und antwortete: »Ja, es war so gegen fünf. Sie verlässt das Haus immer um fünf, wenn sie in den Reitclub fährt. Es sind knapp zehn Minuten mit dem Fahrrad. Ich weiß noch, wie sie sich von mir verabschiedet und im Hinausgehen gesagt hat, dass sie heute Morgen um neun zu Hause sein wolle, um sich noch für den Zahnarztbesuch zurechtzumachen. Das war das Letzte, was ich von ihr gehört habe.« Bei den letzten Worten stockte ihre Stimme, Tränen traten ihr indie Augen, sie nahm ein Taschentuch vom Tisch und tupfte die Tränen ab. »Was glauben Sie, wo sie sein könnte? Sie haben doch ständig mit solchen Sachen zu tun, oder etwa nicht?«, fuhr sie fort, nachdem sie sich einigermaßen beruhigt hatte.
»Frau Kautz, es gibt so viele Möglichkeiten. Wir können im Augenblick überhaupt nichts sagen.«
»Und welche Möglichkeiten gibt es? Würden Sie mir bitte alle Möglichkeiten nennen?«, fragte sie beharrlich weiter.
»Nun, sie könnte aus einer Laune heraus abgehauen sein, sie könnte etwas ausgefressen und nun Angst haben, nach Hause zu
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