Kaltes Blut
erzählen, schließlich sprudelte es nur so aus ihr heraus, während er dasaß und geduldig zuhörte und selbst bei den schlimmsten Passagen nicht seinen Gleichmut verlor.
Als sie nach fast einer Stunde geendet hatte, sagte sie: »Und, verachtest du mich jetzt, hasst du mich oder möchtest du mich schlagen? Ich würde es dir nicht verübeln, denn ich weiß nicht, wie ich auf so etwas reagieren würde. Ich habe aber gegen meine Natur verstoßen. Ich bin nicht bisexuell, glaub mir. Doch vielleicht bin ich verrückt …«
Er legte einen Finger auf die Lippen, beugte sich nach vorn und sah sie mit noch immer dem gleichen warmen Blick an. »Ich verachte dich nicht, und hassen könnte ich dich sowieso niemals. Im Gegenteil, jetzt, wo ich alles weiß, liebe ich dich sogar noch mehr. Denn du hast etwas gemacht, was nur wenigen gelingt, du bist über deinen eigenen Schatten gesprungen. Mir wird jetzt natürlich auch klar, warum du dich in den letzten Monaten so sehr von mir zurückgezogen hast. Aber es ändert nichts an meinen Gefühlen für dich. Außerdem habe ich selber großen Mist gebaut …«
»Aber das wäre nicht passiert, wenn ich dich nicht so im Stich gelassen hätte.«
»Es ist vorbei. Darf ich dich jetzt umarmen?«
Sie lächelte gequält, er stand auf und hielt sie minutenlang fest umschlungen, saugte den Duft ihrer Haut und ihres Haares in sich auf, bevor er sie wieder losließ. Er setzte sich vor sie im Schneidersitz auf den Fußboden und schaute sie lange an.
»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst«, sagte er. »Nein, das kannst du nicht.«
»Doch, ich kann es. Und jetzt lass mich bitte ausreden. Wissen Achim und Werner davon?«
»Nein, glaube ich zumindest. Bei Werner bin ich mir nicht hundertprozentig sicher, aber Achim, im Leben nicht.«
»Wann hat es überhaupt angefangen?«
»Wann genau weiß ich nicht, doch es muss schon vor Jahren gewesen sein, aber ich habe es nicht gemerkt, so blind, wie ich bin. Helena hat es heimlich gemacht, dann hat sie wohl Sonja überredet, mitzumachen, und schließlich hat sie es auch bei mir geschafft. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich schäme.«
»Wart ihr drei die einzigen Frauen?«
»Nein, es sind noch einige andere dabei, aber die kommen nur sporadisch.«
»Ist auch egal … Wie habt ihr denn die Mädchen rumgekriegt? Ich meine, es gibt doch eine Schamgrenze, und viele ekeln sich, mit demselben Geschlecht etwas anzufangen.«
»Fast immer in Frankreich. Die Mädchen waren gut gelaunt, das phantastische Essen, das Meer vor der Tür …«
»Sei jetzt bitte ganz ehrlich zu mir – habt ihr den Mädchen etwas ins Essen oder Trinken getan, damit sie, sagen wir, lockerer wurden?«
»Ich kann es nicht beweisen, aber Helena hatte immer Pillen dabei, die sie ihnen gegeben hat. Als ich sie einmal darauf angesprochen habe, hat sie gesagt, es wären Vitamin- und Aufbaupräparate, aber es kann natürlich auch etwas anderes gewesen sein. Die Mädchen waren jedenfalls nie scheu oder zurückhaltend, wir sind zu ihnen unter die Dusche und …« Sie sprach nicht weiter, ihr Blick allein genügte, dass Gerber sich den Rest denken konnte.
»Wie habt ihr es angestellt, zu ihnen unter die Dusche zu kommen?«
»Sie konnten nicht abgeschlossen werden, das war mit der Gräfin so abgesprochen, sie ist nämlich selbst lesbisch und hat es besonders gerne mit Helena gemacht. Also konnten wir ganz leicht zu den Mädchen und … Was habe ich nur angerichtet?! Ich habe eine solche Wut auf mich, das bringt mich fast um«, sagtesie, Tränen liefen über ihr Gesicht. Gerber zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und reichte es ihr. Er wartete, bis sie sich beruhigt hatte.
»War Selina auch dabei?«
Emily Gerber nickte nur.
»Sie hat mir gegenüber nichts davon erwähnt. Ist es möglich, dass die Mädchen sich gar nicht so richtig an das erinnern konnten, was da mit ihnen geschah?«
»Ich weiß es nicht. Es wurde zumindest nie darüber geredet.«
Gerber überlegte. Er hatte die Augen für ein paar Sekunden geschlossen, dann sagte er: »Es gibt Medikamente, die willenlos und auch hemmungslos machen. Die Wirkung ist ähnlich wie bei Alkohol, wenn du zu viel getrunken und am nächsten Morgen einen so genannten Filmriss hast. Du weißt zwar, dass irgendwas passiert ist, aber du weißt nicht mehr, was. Nur, dass bei den Medikamenten der Kater ausbleibt. Und wenn du wieder eine von diesen ›Vitaminpillen‹ bekommst, ist alles herrlich … Aber trotz aller
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