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Kaltes Blut

Kaltes Blut

Titel: Kaltes Blut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Franz
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ihm einen scharfen Blick zu.
    »Er ist ein Mensch wie Sie und ich«, fuhr Richter unbeirrt fort. »Noch einmal, er ist eine sehr akribische, fast pedantische Person mit einem ausgeprägten Ordnungssinn. Wenn er jemandem ein Paket zu Weihnachten schickt, dann wird er dies mit genau der gleichen Sorgfalt verpacken, wie er es mit seinen Opfern macht.
    Nun zu seiner Person. Die Reinlichkeit, sprich das Waschen und Desinfizieren, ist in seinem Fall gleichzusetzen mit Reinheit. Er will seinen Opfern praktisch die Unschuld wiedergeben, eine Unschuld, von der er meint, dass sie sie bereits verloren haben. Und hier spreche ich ausschließlich von den Mädchen. Zu der Frau und dem Mann komme ich später. Reinheit ist also gleichbedeutend mit Unschuld. Die Flügel, die er ihnen verleiht, sind relativ leicht zu deuten. Engel haben Flügel, Engel sind rein, unschuldig, frei von Sünde. Er hat die Mädchen also zu Engeln gemacht.«
    »Ist er ein religiöser Spinner?«, fragte einer der Beamten.
    »Ich halte es für unwahrscheinlich, aber nicht für ausgeschlossen. Wobei es sich dann um eine psychische Störung handeln würde, und Sie wissen alle, was das bedeutet. Er würde nicht ins Gefängnis kommen, sondern in eine geschlossene psychiatrische Anstalt. Aber lassen Sie mich fortfahren, denn jetzt werde ich in kurzen Punkten die Persönlichkeitsstruktur erläutern.
    Es handelt sich vermutlich um einen Mann zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig. Er leidet unter starken Minderwertigkeitskomplexen und war bislang nicht in der Lage, eine Sache auch wirklich zu Ende zu bringen, Schule, Ausbildung, Studium oder auch eine andere Aufgabe. Er ist ein unterwürfiger Mensch, der stark unter einem Elternteil, vermutlich seinem Vater, der vielleicht sogar ein Übervater war, gelitten hat, der es zu sehr viel gebracht hat, während er selbst immer wieder gescheitert ist, weil er an den Leistungen seines Vaters gemessen wurde oder sich selbst daran maß. Und er hat aller Wahrscheinlichkeit nach seit seinerKindheit eine ganze Reihe von Demütigungen hinnehmen müssen, die bis in die heutige Zeit reichen …«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Er hat quasi Gott gespielt, seine Opfer mussten sich ihm unterwerfen. Er hatte Macht, eine Macht, die er im realen Leben nicht hat.«
    »Sie halten ihn nicht für einen religiösen Spinner«, konstatierte Hellmer. »Die Frage mal andersrum – ist er religiös?«
    Richter nickte. »Er mag durchaus religiös sein. Aber er ist kein Fanatiker. Er fühlt sich lediglich zu etwas Besonderem berufen. Das war schon in seiner Kindheit so, als ihm das Gefühl gegeben wurde, nicht genügend beachtet zu werden, er aber trotzdem beweisen wollte, was in ihm steckt, doch keiner wollte es sehen. Und das hat sich mit der Zeit so fortgesetzt, bis er schließlich aufgegeben und sich gesagt hat, gut, dann werde ich euch eben auf eine andere Art zeigen, was in mir steckt. Er will die Welt reinigen, er will zeigen, schaut her, ich bin jemand, ich bin etwas Besonderes, aber keiner von euch merkt es. Es ist wie ein Hilferuf, nur er selbst sieht das nicht so, weil er längst den Boden unter den Füßen verloren hat. Er würde nie zugeben, dass er Hilfe braucht, und er schreit auch gar nicht mehr nach Hilfe wie früher, weil es eh sinnlos ist und er inzwischen an einem Punkt angelangt ist, wo er sagt, nicht ich brauche Hilfe, sondern ihr. Er will beachtet werden, hat aber das Gefühl, dass ihn keiner beachtet. Er ist weit überdurchschnittlich intelligent, sehr charmant und doch zurückhaltend, was ihn für viele attraktiv macht, vor allem für Mädchen und Frauen. Er kann gut reden und besitzt eine große Überzeugungskraft, und doch ist er nur einer unter vielen, und sobald er nicht mehr präsent ist, vergisst man ihn, zumindest glaubt er das, wo ich wieder bei den Minderwertigkeitskomplexen wäre.
    Sein Leben ist auf einer großen Lüge aufgebaut, doch er selbst erkennt das nicht mehr. Er kann nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge unterscheiden. Wenn Sie ihm gegenüberstehen und mit ihm sprechen, wird er Ihnen alles Mögliche erzählen, und Sie werdenihm alles glauben, auch wenn es nur seiner Phantasie entsprungen ist. Schließen Sie ihn an einen Lügendetektor an, und es wird keine auffälligen Ausschläge geben, das garantiere ich Ihnen, denn, wie gesagt, ihm ist im Laufe der Jahre die Fähigkeit abhanden gekommen, zwischen Realität und Fiktion zu unterscheiden. Und jetzt kommt der eigentlich wichtige Punkt: Er stellt sich

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