Kaltes Blut
kommen, sie könnte einen Unfall mit dem Fahrrad gehabt haben und vielleicht irgendwo bewusstlos oder unfähig, sich zu rühren, an einer schlecht einsehbaren Stelle liegen …«
»Warum hören Sie auf?«, fragte Helga Kautz, als sie merkte, dass Julia Durant stockte. »Das ist doch noch nicht alles, oder?«
Die Kommissarin seufzte auf und schüttelte den Kopf. »Also gut, Ihre Tochter könnte auch einem Gewalttäter in die Hände gefallen sein, doch diese Möglichkeit wollen wir im Moment noch außer Acht lassen. Es gibt nämlich eine Möglichkeit, die wir auch in Betracht ziehen müssen …«
»Und die wäre?«
»Sie ist entführt worden. Haben Sie im Laufe des Tages vielleicht einen seltsamen Anruf erhalten oder einen, wo gleich wieder aufgelegt wurde, als Sie sich gemeldet haben?«
»Nein, kein Anruf, kein Brief, nichts von alledem. Selina wurde nicht entführt. Und wenn, dann hätten der oder die Entführer sich längst bei uns gemeldet.«
»Manchmal vergehen mehrere Tage, bevor ein Entführer sich meldet. Wir müssen eine Entführung allein schon deshalb in Betracht ziehen, weil Sie offensichtlich nicht unvermögend sind. Dass ein fünfzehnjähriges Mädchen wie Selina arglos in ein fremdes Auto einsteigt, ist eher unwahrscheinlich. Vielleicht hat man sie einfach von der Straße weg entführt.«
»Und das Fahrrad? Wo ist dann ihr Fahrrad? Glauben Sie vielleicht,die Entführer nehmen auch gleich noch das Fahrrad mit? Dann hätten die ja mit einem Kleintransporter kommen müssen! Nein, vergessen Sie das mit der Entführung. Ihr ist bestimmt etwas zugestoßen.«
»Frau Kautz«, versuchte Julia Durant sie zu beruhigen, »jetzt denken Sie bitte nicht gleich das Schlimmste (dabei dachte sie selbst daran). Sagen Sie uns lieber, was für ein Mädchen Selina ist. Ist sie eher still und introvertiert oder …«
»Selina ist ein außergewöhnliches Mädchen«, wurde sie von Peter Kautz unterbrochen, der seiner Frau dabei liebevoll übers Haar streichelte, um sie zu trösten. »Sie ist eine ausgezeichnete Schülerin, hochintelligent. Manchmal kommt sie uns richtig unheimlich vor, weil sie, wie soll ich es ausdrücken, sie kann einfach mehrere Sachen auf einmal machen. Sie spielt Klavier, seit sie sechs ist, sie ist seit vier Jahren im Reitclub, und sie kümmert sich sehr liebevoll um ihre Geschwister. Sie ist keins von den Mädchen, die nichts als Jungs oder Disco oder so was im Kopf haben, nein, sie weiß sehr genau, was sie will. Und das ist es eben, weshalb wir solche Angst haben. Sie würde uns niemals bewusst solche Sorgen bereiten. Das hat sie früher nie gemacht und jetzt erst recht nicht. Sie ist sehr verantwortungsvoll. Und um auf Ihre Frage zurückzukommen, sie ist weder introvertiert noch extrovertiert. Sie hat Zeiten, wo sie am liebsten allein ist, wie jedes junge Mädchen, und dann wieder ist sie voller Unternehmungsgeist.«
»Sie hat Ihnen gestern gesagt, sie würde bei einer Freundin übernachten, aber nicht, bei welcher. So steht es zumindest im Protokoll. Kam es schon einmal oder sogar öfter vor, dass sie Ihnen nicht gesagt hat, bei wem sie übernachtet?«
»Vielleicht, ich kann mich aber nicht erinnern. Nein«, sagte Helga Kautz entschieden, »Selina ist in diesen Dingen äußerst zuverlässig. Wir wissen eigentlich immer, wo sie ist.«
»Eigentlich?«
»Wir wissen immer, wo sie ist«, korrigierte sich Helga Kautz.
»Nur diesmal nicht«, sagte Julia Durant mit leicht gekräuselterStirn. »Ich will Ihnen jetzt nicht zu nahe treten, aber kam es Ihnen nicht seltsam vor, dass sie Ihnen ausgerechnet gestern nicht gesagt hat, bei wem sie übernachten würde?«
»Im Nachhinein betrachtet sicherlich schon, aber was bringt es, wenn wir uns darüber den Kopf zerbrechen? Sie ist weg, einfach weg! Auch wenn gerade dieser Umstand, dass sie uns nicht gesagt hat, wo sie die Nacht verbringt oder verbracht hat, ein Hoffnungsschimmer ist.«
»Und genau das ist es, was gegen eine Entführung spricht«, erklärte Helga Kautz. »Es mag sein, dass sie ein Geheimnis hatte«, sie sprach plötzlich in der Vergangenheitsform, ob bewusst oder unbewusst, vermochte Julia Durant nicht zu sagen, es fiel ihr nur auf, »aber was für ein Geheimnis das auch immer war, es wäre nie so schwerwiegend, dass sie einfach so mir nichts, dir nichts verschwindet.«
»Und Sie haben mit sämtlichen Freundinnen oder so genannten Freundinnen von Selina gesprochen?«
»Ja. Aber mit keiner von ihnen war sie verabredet.«
»Und Jungs?
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