Kaltes Blut
Ist im Prinzip doch auch egal, ob Sie’s mir sagen oder irgendein dahergelaufener Penner. Jetzt gehen Sie schon rein, mich brauchen Sie doch sicherlich nicht dabei.«
»Wer ist alles da?«
»Drei Bekannte von meiner Frau. Die werten Damen des Reitclubs! Gesellen Sie sich dazu, ich geh nach oben, denn ich halte das dumme Geschwätz nicht mehr aus.«
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Er hielt inne und sah Durant aus kurz aufflackernden Augen an. »Ja, finden Sie meine Tochter, und zwar lebendig. Das ist das Einzige, womit Sie mir helfen können. Auf alles andere pfeif ich.« Er ging nach oben, nahm seine Tochter Anna bei der Hand und mit ins Kinderzimmer, ein verzweifelter, gebrochener Mann, dessen letzter Funke Hoffnung von dem gerade beginnenden Einsatz zerstört worden war.
»Guten Tag«, sagte Julia Durant, bemüht, sich so unbefangen wie möglich zu geben. »Frau Kautz, Sie haben, wie ich vermute, auch schon mitbekommen …«
»Meinem Mann geht es sehr schlecht, Sie dürfen ihm nicht übel nehmen, was er gesagt hat. Er ist längst nicht so stark, wie es den Anschein hat, und er hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Ich habe ja gestern schon gewusst, dass Selina tot ist. Und ich hatte einen wunderbaren Traum letzte Nacht.«
»Helga, bitte …«
»Emily, ich will nichts weiter dazu von dir hören. Ich will auch nicht, dass ihr mir Mut zusprecht. Ich werde darüber hinwegkommen, glaubt mir. Aber Selina wird nicht mehr zurückkehren. Sie wird nie mehr klingeln, weil sie ihren Schlüssel vergessen hat, sie wird nie mehr anrufen und mich bitten, sie von der Schule abzuholen. Sie wird nie mehr in ihr Zimmer gehen und die Musik laut stellen. Denn es gibt keine Selina mehr.« Sie machte eine Pause, sah Durant an und lächelte verklärt. »Sie denken jetzt vielleicht,ich hätte irgendwelche Tabletten genommen oder mich betrunken.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, weder das eine noch das andere. Ich hatte nur einen wunderbaren Traum, und ich weiß, dass es Selina gut geht. Und das ist meine Hoffnung. Es gibt ein Leben nach dem Tod, und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, dann sehe ich Selina wieder, irgendwann und irgendwo. Sie wird mich erwarten …«
»Frau Kautz …«
Sie winkte ab. »Lassen wir das für jetzt. Darf ich vorstellen, zu meiner Linken, das ist Frau Gerber, die Eigentümerin und Vorsitzende des Reiterhofs. Neben ihr Frau Kaufmann, Tierärztin, und zu meiner Rechten Frau Malkow, zweite Vorsitzende und Voltigiertrainerin und, ja, Helena, man kann doch sagen, dass dir ein Großteil von Okriftel gehört, ich meine damit Häuser und Grundstücke. Oder habe ich jetzt ein Geheimnis verraten? Nun, sei’s drum, Frau Malkow und Frau Kaufmann haben Selina jedenfalls gezeigt, wie man richtig mit Pferden umgeht. Stimmt doch, oder? Nun gut, und diese Dame ist Hauptkommissarin Durant von der Kripo Frankfurt. Damit wäre das Kaffeekränzchen eröffnet.«
Julia Durant ging nicht näher auf den Zynismus ein, der Helga Kautz half, diese für sie so qualvollen und nervenaufreibenden Stunden der Ungewissheit zu überstehen, und sagte: »Frau Kautz, dürfte ich Sie bitte einen Augenblick unter vier Augen sprechen?«
»Aber natürlich, gehen wir einfach nach hinten in die Bibliothek, dort sind wir ungestört.«
»Nein«, entgegnete Emily Gerber schnell, »wir sollten gehen. Wäre es nicht vielleicht doch besser, wenn Andreas mal nach dir sehen würde? Ich brauche bloß anzurufen, und er kommt sofort.«
»Ich brauche keinen Arzt«, erwiderte sie nur. »Sonja und Helena, seid mir nicht böse, aber ich wäre euch dankbar, wenn ihr mich mit Emily und Frau Durant allein lassen würdet.«
»Kein Problem«, sagte Sonja Kaufmann und gab Helena Malkowein Zeichen. Emily Gerber begleitete beide zur Tür und sagte leise: »Nehmt’s ihr nicht übel, aber sie meint es nicht so. Wir sehen uns später.«
»Wir nehmen überhaupt nichts übel«, erwiderte Helena Malkow verständnisvoll. »Aber sollte Selina tatsächlich … Du weißt schon, was ich meine, dann möchte ich als Erste diesen Dreckskerl in die Finger kriegen. Ich reiß ihm persönlich die Eier raus und stopf sie ihm ins Maul, das schwöre ich dir.« Ihr Gesichtsausdruck wirkte überaus entschlossen, in ihren Augen war wieder dieses Glühen, das Emily Gerber schon des Öfteren bei ihr gesehen hatte, ihre Nasenflügel bebten wie die Nüstern eines aufgeregten Pferdes.
»Schon gut, bis nachher. Ich habe allerdings nicht viel Zeit, ich muss mal ein bisschen
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