Kaltes Blut
zu bleiben.«
»Sagen Sie einfach, dass Sie glauben, dass Selina zurückkommt. Mehr will ich nicht hören. Bitte, bitte, bitte!!« Er schlug ein paarmal mit der Faust auf den Tisch, sprang erneut auf und tigerte ruhelos im Zimmer auf und ab, raufte sich die Haare und warf immer wieder einen Blick nach oben, als würde er Hilfe von dort erwarten.»Ich kann nicht mehr«, sagte er plötzlich, »ich glaube, ich verkrafte diese Ungewissheit nicht. Selina war doch …«
Julia Durant bewunderte die Ruhe, welche Helga Kautz bewahrte, die ihren Mann eine Weile beobachtete, wie er hinaus und über den Rasen lief, ein paar Blätter von einem Strauch abzupfte und dabei Unverständliches murmelte. Sie stand wortlos auf, ging zum Telefon und wählte eine Nummer. Sie sprach sehr leise und als sie wieder zurückkam, sagte sie zu Durant und Hellmer: »Ich habe Dr. Gerber angerufen. Ich kenne meinen Mann und habe Angst, dass er etwas Unbedachtes tut. Er kann manchmal sehr impulsiv sein.«
»Wie soll ich das verstehen?«, fragte Julia Durant.
»Nein, nicht was Sie jetzt denken. Seine Impulsivität spielt sich eher im beruflichen Bereich ab, wenn zum Beispiel etwas nicht gleich so klappt, wie er sich das vorstellt. Manche Dinge können ihm einfach nicht schnell genug gehen. Hier zu Hause ist er lammfromm und die Geduld in Person. Nur jetzt wird er mit einem Mal mit etwas konfrontiert, das er nicht kontrollieren kann. Und das macht ihn wahnsinnig. Deshalb habe ich Dr. Gerber gebeten, vorbeizuschauen.«
»Wie kommt es eigentlich, dass Sie so ruhig sind?«
Helga Kautz lachte leise auf. »Das ist nur äußerlich, Frau Durant. Hier drin«, sie klopfte sich auf den Brustkorb, »hier drin ist das reinste Chaos. Aber einer muss doch die Ruhe bewahren, zumindest nach außen hin. Außerdem hilft mir mein Glaube.«
»Sie sind religiös?«
»Wenn Sie das so bezeichnen möchten. Wir besuchen zumindest regelmäßig die Kirche.«
»Mein Vater ist beziehungsweise war Pastor in der Nähe von München.«
»Sie glauben also auch an Gott?«
»Ich glaube zumindest, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als wir mit unserem kleinen Verstand erfassen können. Ist Selina eigentlich auch immer mit zur Kirche gegangen?«
»Ja, bis vor kurzem. Dann hat sie gesagt, sie müsse das alles überdenken, und ist zu Hause geblieben.«
»Ab wann ging sie nicht mehr mit?«
»Seit Mai etwa.«
»In welche Kirche gehen Sie denn, und wie lange sind Sie jedes Mal weg?«
»Wir sind vor vier Jahren zum Mormonismus übergetreten und sind sonntags immer drei Stunden in der Gemeinde, die Fahrtzeit eingerechnet sind wir etwa vier Stunden weg. Warum?«
»Was hat denn Selina gemacht, während Sie in der Kirche waren?«
»Sie war bei Freundinnen oder bei ihrem Pferd«, antwortete Helga Kautz langsam, die allmählich zu begreifen schien, weshalb Selina plötzlich nicht mehr mit in die Kirche kommen wollte. »Angeblich war sie dort.«
»Ihre Eintragungen fangen am 7. Mai an. Das war ein Dienstag.«
»Sie meinen, sie ist nicht mehr mitgekommen, weil sie diesen Mann kennen gelernt hat?«
»Gut möglich. Was machen eigentlich Ihre andern beiden Kinder?«
»Meine Mutter kommt heute Nachmittag und wird sich um sie kümmern. Vielleicht nimmt sie sie auch mit nach Königstein. Anna geht das alles natürlich gewaltig an die Nieren, Elias ist zum Glück noch zu klein, um zu begreifen. Ich muss ihnen auch gleich etwas zu essen machen. Wenn Sie noch warten, lernen Sie Dr. Gerber kennen, er wird in ein paar Minuten hier sein.«
Helga Kautz hatte es kaum ausgesprochen, als das Handy von Julia Durant klingelte. Sie nahm es aus ihrer Tasche und meldete sich.
»Hier Preibel, Polizei Hattersheim. Frau Durant?«
»Ja.«
»Ich habe eben mit Ihrem Vorgesetzten gesprochen, der mir Ihre Nummer gegeben hat. Wo sind Sie gerade?«, fragte er.
»Moment.« Sie stand auf und begab sich in den hinteren Teil des Wohnzimmers, wo sie ungestört reden konnte. »Was gibt’s?«
»Ein paar Kinder haben etwas gefunden – am Main. Ich habe bereits vier Kollegen hingeschickt, möchte Sie aber bitten, sich das mal anzuschauen.«
»Was haben die Kinder gefunden?«, fragte sie und merkte, wie ihre Kehle trocken wurde und ihr Herzschlag sich beschleunigte.
»Ein großes verschnürtes Stoffbündel. Ich habe den Kollegen gesagt, dass sie nichts anrühren sollen, bis Sie da sind. Es ist auf dem Gelände der alten Zellulosefabrik.«
»Wir sind gleich da.« Sie drückte die Aus-Taste und befahl
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