Kaltes Blut
seltsamer Geruch stieg ihr in die Nase, ein Geruch,den sie nicht zum ersten Mal roch, im Moment aber noch nicht einzuordnen wusste. »Braunes Sackleinen, eine handelsübliche Paketschnur. Und es riecht so merkwürdig. Frank, wonach riecht das?«
Hellmer, der näher gekommen war, schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Vielleicht wie in der Pathologie, oder?«
»Könnte hinkommen. Aber warum riecht es so?« Sie tastete vorsichtig die Oberfläche ab, unter der es knisterte. »Da drunter ist Plastik, vielleicht ein Müllsack.« Sie drückte etwas fester und meinte einen Kloß im Hals zu haben. Was sie ertastete, fühlte sich weich an. Sie ließ ihre Hand weiter nach rechts gleiten, mit einem Mal glaubte sie etwas Hartes zu spüren. Sie stellte sich aufrecht hin. Ihr Blick sagte mehr, als eine Million Worte es gekonnt hätten.
»Frank, Spurensicherung, Fotograf et cetera pp., vorher mach ich hier nicht weiter. Sie ist da drin.« Tausend Gedanken schossen auf einmal durch ihren Kopf, die meisten davon betrafen die Eltern von Selina.
»Sicher?«
»99,9 Prozent. Verschnürt wie ein Paket. Fehlt nur noch der Aufkleber mit Absender und Adresse«, sagte sie zynisch. Sie holte eine Zigarette aus ihrer Tasche, Hellmer gab ihr Feuer und rief anschließend Berger an.
»Wir haben sie wahrscheinlich gefunden«, sagte er. »Lassen Sie unsere Spezialisten antanzen. Kirchgrabenstraße, Okriftel.«
»Sind in spätestens einer halben Stunde da.«
»Alles klar.« Hellmer zündete sich ebenfalls eine Zigarette an und setzte sich auf eine alte Treppe.
»Können wir irgendwas tun?«, fragte einer der uniformierten Beamten.
»Nein. Aber warten Sie noch, bis unsere Kollegen hier sind. Und absolute Informationssperre. Sollte die Kleine da drin sein, übernehmen wir das. Eine Frage, dieses Gelände hier, ich meine, wird hier noch gearbeitet?«
»Ja, aber nur in einem kleinen Teil. Bisschen weiter oben ist eine Autowerkstatt, es gibt noch mehrere andere kleinere Firmen auf dem Gelände, die Aleviten haben ihr Gemeindezentrum auf der gegenüberliegenden Seite, aber Zellulose oder Papier wird hier schon lange nicht mehr hergestellt.«
»Kommt man nachts einfach so auf das Gelände?«
»Natürlich …«
»Und wie?«
»Durch das große Tor oben zum Beispiel.«
»Unbemerkt?«, fragte sie zweifelnd. »Würde man da nicht Gefahr laufen, gesehen zu werden?«
»Die Gefahr besteht immer«, erwiderte der Beamte lakonisch. »Aber nachts ist es hier still wie auf einem Friedhof. Ein paar Katzen, ein paar Mäuse und unzählige Ratten.«
»Ist das Gartentor eigentlich immer offen oder abgeschlossen?«
»Es ist normalerweise abgeschlossen …« Er kratzte sich am Kopf, überlegte und sagte: »Seltsam, es war offen, als wir kamen, aber jetzt, wo Sie mich so fragen … Ich kann ja mal nachschauen, ob da jemand vielleicht gewaltsam eingedrungen ist.« Er ging hin, suchte nach Einbruchspuren, nichts. Er drückte die Klinke hinunter, das Tor ließ sich leicht öffnen.
»Es ist offen. Dass mir das vorhin nicht gleich aufgefallen ist, denn ich habe hier schon des Öfteren kontrolliert, und da war es immer verschlossen.«
»Also scheint jemand einen Schlüssel zu besitzen und ist unbemerkt reingekommen«, sagte Durant. »Wie sieht es denn nachts hier aus? Ich meine, so um zwei oder drei, wenn alles schläft?«
»Finster, sehr finster.«
»So finster, dass man hier eine Leiche ungehindert und ungestört entsorgen kann?«
»Wenn nicht zufällig jemand auf der Straße ist oder am Fenster steht. Aber selbst dann würde es wohl kaum auffallen.«
»Befragen Sie doch bitte nachher trotzdem einmal die Bewohner der umliegenden Häuser und die Leute, die sich sonst hier aufdem Gelände aufhalten. Vielleicht hat ja doch jemand etwas bemerkt.«
»Wird gemacht.«
»Danke.«
Julia Durant ging hinunter zum Main und schnippte die Zigarettenkippe ins Wasser. Hellmer folgte ihr.
»Der Vater flippt völlig aus, wenn wir es ihm sagen.«
»Und die Mutter?«
»Ich hab selten jemanden erlebt, der so stark ist. Auch wenn sie behauptet, das sei alles nur Fassade. Nee, das ist nicht nur Fassade.«
»Der Zusammenbruch kommt bei ihr später. Im Moment verschließt sie wahrscheinlich nur die Augen vor der Wahrheit.«
»Glaub ich nicht. Aber das soll uns jetzt egal sein. Ich hoffe, unsere Leute beeilen sich, ich will endlich Gewissheit haben.«
Sie zündete sich eine weitere Zigarette an, noch mehr Kinder und auch Erwachsene hatten sich am Zaun eingefunden und
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