Kaltes Blut
tippte Kullmers Nummer ein. Nach nicht einmal einer Minute war das Gespräch beendet.
Freitag, 14.15 Uhr
Er war an den Main gefahren, hatte die Polizeiwagen gesehen und die Menschen, die sich auf der Straße und der Wiese vor der alten Fabrik versammelt hatten. Er setzte sich auf eine Bank und schaute auf das Wasser. Ein Lastkahn tuckerte in Richtung Rhein. Er nahm das Handy aus der Brusttasche seines Hemdes und tippte die Nummer seines Vaters ein.
»Ich soll dich anrufen«, sagte er.
»Das wurde aber auch Zeit«, kam die schroffe Antwort. »Hör zu, Junge, ich habe eine Arbeit für dich …«
»Vater, ich habe einen Job, und zwar einen guten. Ich brauche deine Hilfe nicht, ich bin erwachsen, falls du das vergessen haben solltest.«
»Nein, das habe ich nicht vergessen, auch wenn du dich manchmal wie ein kleiner Junge benimmst. Dennoch solltest du dir anhören, was ich dir mitzuteilen habe. Hans sucht dringend einen Geschäftsführer, und ich habe mich für dich bei ihm stark gemacht. Er hat zwar anfangs gezögert, aber ich weiß doch, dass du vorne und hinten nicht klarkommst. Wenn du nicht eine solch bezaubernde Frau hättest, die etwas aus ihrem Leben gemacht hat.«
»Lass sie aus dem Spiel, bitte! So schlecht verdiene ich nun auch wieder nicht. Und …«
»Junge, komm auf den Boden und sieh endlich den Tatsachen ins Gesicht. Da, wo du jetzt bist, wirst du es nie zu etwas bringen, niemals, hörst du! Wenn du bei Hans gut arbeitest, stehen dir in Zukunft alle Türen offen. Denk drüber nach, es ist das letzte Mal, dass ich dir unter die Arme greife …«
»Ich habe dir schon oft genug gesagt, ich brauche deine Hilfe nicht!«
»So, das ist ja was ganz Neues. Wer hat dich denn unterstützt, als du studiert hast und auch in den ersten Jahren, als es mit deiner Arbeit nicht so recht geklappt hat? Du bist undankbar und aufsässig wie eh und je …«
»Vater, es tut mir Leid, ich habe es nicht so gemeint. Aber bitte versteh mich doch, ich …«
»Er zahlt zehntausend im Monat, vierzehn Monatsgehälter, macht summa summarum einhundertvierzigtausend per annum. Ist zwar auch nicht die Welt, aber bei weitem besser als das, was du jetzt hast. Ich habe ihm versprochen, dass du dir das Angebot wenigstens überlegst. Du hast zwei Wochen Zeit, ihm deine Entscheidung mitzuteilen. Er würde dich nehmen, ohne groß zu fragen. Mein Wort allein genügt schon.«
»Ich werde es mir überlegen …«
»Ach ja, noch was – solltest du ablehnen, frag mich bitte nie wieder, ob ich dir helfe. Das war definitiv das letzte Mal. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, ich habe dich sogar sehr gut verstanden.«
»Dann ist ja gut. Wie gesagt, du hast zwei Wochen Zeit. Und solltest du Fragen haben, dann frag mich, Hans hat mir den Aufgabenbereich en détail beschrieben. Du hast das Zeug dazu, ich weiß es, denn du bist mein Sohn. Also mach mir keine Schande, denn Hans wäre sicher alles andere als erfreut, solltest du ablehnen. Es geht auch um meinen Ruf.«
»Ich hab doch gesagt, ich werde es mir überlegen.«
»Er erwartet deine Antwort – und ich auch. Klar?«
»Ja, Vater.«
»Dann mach’s gut.« Sein Vater legte einfach auf, ohne eine Erwiderung abzuwarten.
Er steckte das Handy wieder in die Hemdtasche, seine Kiefer mahlten vor Zorn aufeinander. Du Arschloch, du gottverdammtes Arschloch! Warum kannst du mich nicht endlich in Ruhe lassen?! Ja, ich bin dein Sohn, aber in Wirklichkeit bin ich nur dein Sklave. Nichts kann ich dir recht machen, aber auch gar nichts. Doch duwirst schon noch merken, was du davon hast. Schmier dir doch deinen Scheißjob wer weiß wohin! Ich bin anders, als du denkst, ganz anders. Und ich werde es dir beweisen! Alle Welt wird darüber schreiben, im Fernsehen werden sie darüber berichten, aber leider wirst du nie erfahren, dass ich es bin, dein verhasster Sohn!
Ein Spaziergänger kam zu ihm und fragte ihn, ob er wisse, was bei der alten Fabrik los sei. Er schreckte aus seinen Gedanken auf und antwortete, er wisse es nicht genau, aber es könne sein, dass es mit dem verschwundenen Mädchen zusammenhänge. Der Fremde begnügte sich mit der Antwort und setzte seinen Weg fort. Er stand auf, lächelte, und obgleich in ihm der Wunsch brannte, sich zu der Menge zu gesellen, ließ er es bleiben und tat, als würde ihn all dies nicht interessieren. Und eigentlich tat es das auch nicht, schließlich wusste er, was man dort hinter dem Zaun gefunden hatte. Aber es war ja nur die Hülle, das, was das Auge wahrnahm,
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