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Kaltes Gift

Kaltes Gift

Titel: Kaltes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nigel McCrery
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nicht, oder sie waren fasziniert.
Dann stellten sie ihm Fragen, wie sich das anfühlte, und sie
bemitleideten ihn, so gut sie konnten, wirklich verstehen jedoch taten
sie es nicht. Nicht einmal die Ärzte und Psychiater, die ihre Zeit
damit zubrachten, Fachbücher zu lesen und Experimente auszutüfteln, um
zu verstehen, was Synästhesie in den Funktionen des Gehirns anrichtete.
Niemals konnten sie erfassen, wie es war, andauernd mit Empfindungen
bombardiert zu werden, die man nicht erwartet hatte. Andauernd aus dem
Hinterhalt von ungewollten Geschmacksfluten überfallen zu werden,
manche angenehm, andere widerwärtig, aber alle unwillkommen.
    Wie sollte man erklären, dass man niemals Radio hören konnte?
Niemals fernsehen? Niemals einem Sportereignis oder einem Konzert
beiwohnen, aus Angst, dass man sich infolge eines plötzlichen üblen
Geschmacks, ausgelöst durch einen unerwarteten Ton, übergeben musste?
Wie konnte er ihnen erklären, dass er die Abende nicht mit den Kumpels
im Pub verbringen konnte, weil die dröhnende Atmosphäre dort einen
Schwall ranzigen Fetts in seinem Mund auslöste, der jeden Bier- oder
Whiskygeschmack überlagerte, alles, womit er versuchte, ihn zu
überspielen. Bei der Polizei hatte er den Ruf, unnahbar, reserviert und
zurückhaltend zu sein. Die Wahrheit war, er konnte nicht anders. Er
konnte nicht gesellig sein. Ihm war, als würde er langsam verrückt.
    Selbst auswärts zu essen war schwierig. Am Anfang ihrer
Beziehung hatten Sonia und er versucht, gelegentlich essen zu gehen,
doch sie mussten Restaurants ohne Hintergrundmusik finden. Und selbst
dann verdarb das Gemurmel der Unterhaltungen der anderen Gäste ihm die
ganze Mahlzeit, von der Vorspeise bis zum Kaffee, durch einen
unterschwelligen Blutgeschmack. Egal, was er als Hauptgericht
bestellte, immer schmeckte das Fleisch roh. Nach einer Weile gaben sie
das Ausgehen vollständig auf, außer an Sonias Geburtstag, dann wappnete
sich Lapslie für einen unerfreulichen Abend. Und das war, offen gesagt,
ihr gegenüber nicht fair.
    Doch es war nicht nur das. Im Laufe der Jahre hatte Lapslie
angefangen, immer reizloseres Essen zu sich zu nehmen, allein deshalb,
weil sein ganzes Arbeitsleben ein Morast aus unvereinbaren Geschmäcken
war. In einem stillen Haus zu sitzen und Reis oder Pasta zu essen, war
für ihn der ultimative Luxus.
    Ein stilles Haus. Ein Haus ohne Frau, ohne Kinder.
    Sonia hatte versucht, ihn zu verstehen. Ihr lag selbst nicht
viel am Ausgehen – ihre Arbeit als Krankenschwester verschlang
das meiste ihrer Zeit und Ausruhen den größten Teil dessen, was übrig
blieb –, sie schätzte ihr friedvolles Miteinander. Sie machten
lange Spaziergänge im Wald. Er saß behaglich in einem Sessel und las,
während sie stickte oder Kreuzworträtsel löste.
    Eine kleine Insel der Ruhe und Zufriedenheit, die genau bis zu
dem Moment Bestand hatte, als Sonia unerwartet schwanger wurde. Mit
Zwillingen.
    Lapslie liebte seine Kinder verzweifelt. Und er hasste sie
auch; oder vielmehr, er hasste den fortwährenden Krach – das
Gebrüll, als sie klein waren, das Geschrei und Gezänk, als sie älter
wurden. Ohrstöpsel halfen; bis spätabends im Büro zu arbeiten und
allein lange Spaziergänge zu unternehmen, half noch mehr, doch das
bürdete Sonia noch mehr auf, weil sie sich ganz allein um die Kinder
und das Haus kümmern musste. Und er spürte, wie er allmählich die
Verbindung zu ihnen verlor. Dass er aus der Ferne zusah, wie sie ihr
Leben ohne ihn führten.
    Er konnte sich nicht mehr erinnern, wer es gewesen war, er
oder Sonia, der die Trennung vorschlug. Wahrscheinlich hatten sie beide
schon geraume Zeit darüber nachgedacht, und als einer von ihnen fast
beiläufig das Thema anschnitt, ergriff der andere die Gelegenheit beim
Schopfe. Eine ›Trennung auf Probe‹ hatten sie es genannt. Und wie so
viele der Proben, denen Lapslie im Laufe der Jahre ausgesetzt gewesen
war, machte sich immer mehr Bitterkeit darin breit, und es war nicht
abzusehen, dass sie jemals enden würde. Sie hielten noch Kontakt, aber
sie drifteten immer weiter auseinander. Durch kein Verschulden
seinerseits und kein Verschulden ihrerseits trieben sie einfach
auseinander. Lapslie seufzte. Er sollte lieber gehen und sich anhören,
was der Superintendent von ihm wollte.
    Er wählte einen Weg zum Büro seines Vorgesetzten –
einem der wenigen Einzelbüros im ganzen Gebäude –, der die
Anzahl der Menschen, denen er unterwegs begegnen konnte, auf ein
Minimum

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