Kaltherzig
Quecksilber zwischen den Stallungen und dem rechtwinklig zur Straße verlaufenden Kanal lag. Ein Reiher watete auf langen Stelzenbeinen im flachen Wasser. Er beachtete sie nicht.
So allein...
Der Sack wurde so schnell über ihren Kopf gestülpt,
dass Lisbeth gar nicht reagieren konnte. Gerade blickte sie noch auf den Reiher, und im nächsten Moment sah sie nichts mehr, bekam keine Luft. Eine Art Kordel schloss sich um ihren Hals und schnitt ihr die Luftzufuhr ab.
Lisbeth versuchte, die Finger unter die Kordel zu bekommen, um sie wegzuziehen. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Sie versuchte, nach der Person hinter ihr zu treten, aber er riss sie von den Beinen und schüttelte sie wie eine Puppe, bis sie nicht mehr wusste, wo oben und unten war.
Benommen, orientierungslos und in panischer Angst erbrach sie sich in der Sekunde, in der die Kordel gelockert wurde, in den Sack. Der Mann schleifte sie rückwärts, und Lisbeth strampelte und wand sich und schlug mit den Armen wie ein wildes Tier in einer Falle.
Die Schnur zog sich wieder zu. Fester. Noch fester. Farben explodierten vor ihren Augen. Ich werde sterben, dachte sie erstaunt.
Es war ihr letzter Gedanke.
35
Was ist der Tod? Wohin geht die Seele?
Menschen, die man durch Wiederbelebung aus dem Tod zurückgeholt hatte, berichteten immer von einem strahlend weißen Licht, von vor ihnen verstorbenen Freunden und Angehörigen, die sie lächelnd und mit offenen Armen zu sich gerufen hatten.
Lisbeth sah nichts. Schwärze. Sie streckte die Hand aus
und stieß an etwas Festes. Sie drückte, aber es gab nicht nach. Ein Sarg , dachte sie und geriet in Panik. Sie war nicht tot, man hatte sie lebendig begraben.
Sie schlug wieder und wieder mit der Faust an den Deckel. Sie weinte. Als sie schreien wollte, konnte sie es nicht. Ihre Kehle war wund und geschwollen und ihr Mund so trocken, dass es sich anfühlte, als hätte sich die Zunge verdoppelt und bestünde aus Watte. Sie versuchte, den Sack von ihrem Kopf zu ziehen, aber es gelang ihr nicht.
Dann dämmerte ihr allmählich, dass sie Bewegung wahrnahm. Und als das Hämmern ihres eigenen Pulses in den Ohren nachließ, hörte sie das Geräusch von Reifen auf Asphalt.
Sie befand sich im Kofferraum eines Wagens.
Als sie es begriff, wurde sie von neuer Panik erfasst.
Wer hatte sie entführt? Wohin brachte man sie? Zu welchem Zweck?
Es gab keine guten Antworten auf diese Fragen.
Der Wagen wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Eine Tür ging auf und wieder zu. Sie wartete darauf, dass der Kofferraum geöffnet wurde, aber es geschah nicht.
Ihr Herz raste. Sie zitterte heftig. Der Geruch ihres eigenen Erbrochenen stach ihr in die Nase. Sie lauschte angestrengt nach Stimmen, aber da waren keine.
Was würde nun mit ihr geschehen?
Würde sie wünschen, sie wäre schon tot?
Platsch! Platsch! Platsch!
Jemand warf schwere Gegenstände ins Wasser.
Dann Stille.
Der Kofferraumdeckel sprang auf, Lisbeth wurde unsanft gepackt, aus dem Wagen gezerrt und auf die Füße
gestellt. Ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Ihre Knie knickten ein, aber ihr Entführer hielt sie an dem Strick um ihren Hals aufrecht, als wäre sie ein Hund an einer Leine. Sie strampelte, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren, trotzdem schleifte er sie halb von der Straße ins Gras. Der Untergrund war weich und nass.
»Nein«, krächzte sie mühsam. »Nein. Nein!«
Sie trat in Wasser, versuchte sich umzudrehen und wegzurennen. Er stieß sie vor sich her.
Jetzt war das Wasser knöcheltief, schienbeintief …
Er wollte sie ertränken.
»Nein! Nein!«
Ein wildes Kreischen klang ihr in den Ohren. Sie begriff erst gar nicht, dass es von ihr selbst stammte. Wie sehr sie sich auch wehrte und spritzte, das Wasser ging ihr schon bis zu den Knien, den Oberschenkeln... Ihre Füße saugten sich im Schlamm fest.
»Nein! Töten Sie mich nicht! Töten Sie mich nicht!«
Ihr Entführer sagte nichts.
»Bitte töten Sie mich nicht!«
... ihre Hüfte, ihr Bauch …
Sie schluchzte.
Er sagte nichts, trieb sie nur immer weiter ins Wasser.
Es stieg bis über ihre Brüste.
Er legte ihr die Hand auf den Kopf, tauchte sie unter und hielt sie so.
Sie schluckte Wasser in ihrer wilden Panik, ihrem verzweifelten Kampf.
Ihr Entführer riss sie an die Oberfläche. Lisbeth musste den Kopf nach hinten neigen, um dem Wasser zu entgehen, das in dem Stoffsack eingeschlossen war. Sie hatte Wasser
geschluckt, Wasser inhaliert und bekam keine
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