Kalymnos – Insel deines Schicksals
Mitte zwanzig sein. Als Erstes waren Julie ihre braunen Augen aufgefallen, deren Blick ungeheuer offen und ehrlich wirkte. Darüber hinaus war sie ausgesprochen elegant gekleidet. Und wie die Frauen im Dorf, trug auch Tracy ihren Ehering am Mittelfinder der rechten Hand. Nur dass er bei ihr von einem eindrucksvollen Diamanten gekrönt wurde.
Ihr Mann Michaiis war durchaus eine beeindruckende Erscheinung, aber mit Doneus nicht zu vergleichen. Er war wesentlich kleiner und wirkte fast ein wenig gedrungen.
Außerdem waren seine Gesichtszüge nicht so markant, dafür hatte er einen wesentlich dunkleren Teint.
Ein Gong ertönte, und Michaiis forderte sie auf, ins Esszimmer zu gehen. Dieselbe junge Frau, die sie vorhin empfangen hatte, trug nun das Essen auf. „Sie heißt Eleni", erkläre Tracy. „Wir sind sehr zufrieden mit ihr, gleichwohl werden wir uns bald ein neues Hausmädchen suchen müssen - in ziemlich genau sechs Monaten. Eleni ist nämlich schwanger. Die jungen Frauen hier sind derartig empfänglich, dass man ständig neues Personal suchen muss", sagte sie schalkhaft.
Wie auf ein geheimes Zeichen hin sah Julie zu Doneus. Und auch wenn sich ihre Blicke nur für Sekunden begegneten, war Julie davon überzeugt, dass Doneus um den Gedanken wusste, den Tracys Worte in Julie wachgerufen hatten. Vielleicht war sie ja schon schwanger! Ganz ausschließen konnte man es nicht. Aber so jäh sich dieser Gedanke eingestellt hatte, so schnell verwarf sie ihn auch wieder. Für ihren einmaligen Ausrutscher sollte sie doch nicht derart bestraft werden! Und dass es ein einmaliger Ausrutscher war, stand unwiderruflich fest.
Michaiis nahm Tracys Scherz zum Anlass, ein ernstes Thema anzusprechen: die Zukunft der Insel. „Wenn die Bevölkerung weiterhin in dem Tempo abnimmt wie in den letzten Jahren, ist Kalymnos bald ausgestorben." Er schien wirklich besorgt. „Und angesichts der Tatsache, dass die Nachfrage nach Naturschwämmen immer weiter abnimmt, sehe ich keine Möglichkeit, diesen Trend zu stoppen. Womit sollen die Menschen denn sonst ihr Geld verdienen? Es gibt doch nichts anderes auf Kalymnos. Da ist es kein Wunder, wenn die Jungen die Insel verlassen, um sich anderswo eine Existenz aufzubauen."
„Ich bin der Letzte, der ihnen daraus einen Vorwurf macht", erwiderte Doneus nachdenklich. „Denn selbst wenn die Nachfrage nach Naturschwämmen noch ein paar Jahre anhalten sollte - das Leben als Schwammtaucher ist alles andere als leicht, und ich habe für jeden Verständnis, der seine Heimat verlässt, um sich eine weniger anstrengende und gefährliche Arbeit zu suchen. Ihr dürft nicht vergessen, dass von den gut tausend Männern, die jedes Jahr zu Ostern aufbrechen, ungefähr zwanzig als Krüppel zurückkehren. Und die gleiche Anzahl kehrt nie zurück."
Julie gab es einen Stich ins Herz, als hätte ihr jemand einen Dolchstoß versetzt.
Urplötzlich musste sie daran denken, wie es wäre, wenn Doneus ...
Nur unter Aufbietung all ihrer Kräfte gelang es ihr, diesmal nicht zu ihm zu sehen.
Niemand am Tisch sollte wissen, wie sehr seine Worte sie schockiert hatten, und schon gar nicht Doneus. Denn selbst wenn sie die Gefahr, der er bei seiner Arbeit ausgesetzt war, bislang völlig unterschätzt zu haben schien - war die Heftigkeit ihrer Reaktion wirklich noch mit Mitleid zu erklären?
Tracy war nicht entgangen, dass Julie plötzlich aschfahl geworden war. Und sie schien auch zu ahnen, weshalb, denn sie lenkte schnell auf ein unverfänglicheres Thema, so dass das Essen doch noch überaus harmonisch verlief.
Aber als sie später wieder in den Salon zurückgekehrt waren und der Zufall es wollte, dass Tracy sich neben sie auf das Sofa setzte, während die beiden Männer ihnen gegenüber Platz genommen hatten, konnte Julie nicht umhin, das unerfreuliche Gespräch wieder aufzunehmen, so sehr verwirrte sie die Angst, die sie auf einmal um ihren Ehemann hatte.
Zunächst erkundigte sie sich bei Tracy nach Michaiis' Beruf und erfuhr, dass er mehrere Hotels besaß. Dann fasste sie sich ein Herz. „Sagen Sie mir bitte ganz offen, wie es für Sie wäre, wenn Ihr Mann auch Schwammtaucher wäre?"
Tracy fingerte eine Zigarette aus der Packung, steckte sie sich an und inhalierte mehrmals tief, als müsste sie über eine Antwort erst nachdenken. „Ich glaube nicht, dass ich mich je damit abfinden könnte", erwiderte sie schließlich, allerdings ohne Julie dabei anzusehen.
„Doneus hat schon ganz Recht. Es ist wirklich kein
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