Kann denn Lüge Sünde sein? (German Edition)
aufsteigt, mir ein wohliges und sicheres Gefühl gibt, aber ab einer gewissen Höhe sofort wieder abkühlt und ein Frösteln hinterlässt, das ich nicht deuten kann.
Ich horche tief in mich hinein, spiele verschiedenste Szenarien durch, um meinen Gefühlen auf die Schliche zu kommen, aber sie halten sich weiter bedeckt. Wahrscheinlich schämen sie sich, weil auch sie noch nicht geduscht, frisiert und geschminkt sind. Vielleicht sollte ich endlich ins Bad gehen, anstatt hier herumzusitzen, danach sind meine Gefühle eventuell weniger scheu und lassen sich von mir aus der Ferne beobachten.
Vielleicht habe ich mich damit aber auch getäuscht: Selbst nach einer ausdauernden Pflegesession in meinem Bad stellt sich die Erkenntnis über meine durcheinandergeratenen Gefühle nicht ein. Ob sie launisch sind? Okay, letzte Nacht hat es ihnen vielleicht etwas an Schlaf gemangelt, möglicherweise war ich auch in Sachen Alkohol etwas ungnädig zu meinem Körper. Und na gut, zum Abschminken bin ich am Vorabend natürlich auch nicht mehr gekommen. Aber muss man so nachtragend sein?
Die Antwort ist ein tiefes Grollen. Verwirrt sehe ich zu Caruso, der inzwischen mit seiner Leine im Maul an der Tür steht. Er wedelt auf meinen Blick hin freudig mit dem Schwanz. Wieder ein Grollen. Diesmal spitzt er die Ohren und legt den Kopf schief. Oh, das war wohl mein Magen. Wir haben also Hunger und sind deshalb etwas zickig. Vielleicht lassen sich meine Gefühle ja mit Essen ködern …
Dass ich hungrig bin, kommt zugegebenermaßen ziemlich oft vor, auch wenn man mir das (Gott sei Dank) nicht ansieht. Aber mein Blutzuckerspiegel ist ziemlich schnell im Keller, und wenn es dann keine Toten geben soll (besonders gefährdet: zickige Weiber und schleichende Autofahrer), ist es empfehlenswert, mir schnell etwas Essbares in die Hand zu drücken. Das muss auch keine ganze Mahlzeit sein – es reicht, wenn ich mir Knabberzeug hinter die Kiemen schiebe. Zumindest ziehe ich als Zwischenmahlzeit auch mal einen Apfel den fiesen Snacks der Jungs (Chips, Schokoriegel oder Bratwurstsemmeln) vor. Und jetzt ist die Zeit für ebensolche lebensrettende Maßnahmen gekommen, das spüre ich genau!
Als ich mich beim Gassigehen mit Caruso auf Nahrungssuche mache, wird mein Nervenkostüm schon deutlich dünner und meine Hände fangen an zu zittern. Ich sollte schleunigst den nächsten Bäcker aufsuchen. Zum Glück fällt mein Blick auf eine Subway-Filiale. Eigentlich nichts für entscheidungsschwache Menschen wie mich. Denn diese Sandwichläden sind fast so schlimm wie die Kaffeeketten, die überall wie Pilze aus dem Boden schießen und einen mit so lebenswichtigen Fragen quälen wie: mit Milch? Vollmilch, H-Milch, Sojamilch oder lieber Ziegenmilch? Den Kaffee mit oder ohne Koffein? Karamell-, Vanille-, Schoko- oder Haselnusssirup? Klein, normal oder groß? Zum Mitnehmen oder hier trinken? Und zu Beginn die Masterfrage: Welche globale Kette soll ich mit meinem Besuch beehren? Und nur, weil ich bei längerem Koffeinentzug schnell einem Narkolepsie-Patienten gleiche, muss ich mich jeden Tag aufs Neue mit diesen schrecklichen Entscheidungen zur Nahrungsaufnahme plagen.
Inzwischen habe ich mich aber geübt in dieser Kunst und kann mir bei Subway innerhalb kürzester Zeit ein Sandwich zusammenstellen, indem ich meine Wünsche maschinengewehrsalvenartig über den Tresen belle. Heute verlasse ich das Geschäft mit einem Honey-Oat-Streichkäse-Extra-Oliven-Honey-Mustard-Sauce-Thunfisch-Sandwich. Ich bin wieder mal stolz auf mich, angesichts dieses wunderbaren Ausdrucks meiner individuellen Persönlichkeit. Man sollte diese Art Einkauf als Therapieform unbedingt für entscheidungsschwache Menschen wie mich anbieten. »Du kannst dich entscheiden, los, trau dich! Du kannst keine falsche Entscheidung treffen, jeder Weg ist richtig, probier’s einfach aus!« oder »Du bist einzigartig! Du bist, wie du bist! Zeig der Welt deinen ganz besonderen Geschmack, bestell das Turkey and Ham Sandwich ohne Fleisch und einen entkoffeinierten Kaffee mit Sojamilch und einer Prise Zimt! Express yourself!
So, ich habe gegessen. Könnten sich meine Gefühle jetzt bitte mal ordentlich der Reihe nach aufstellen und sich von mir untersuchen lassen? So, genau. Hey, du da, legst du wohl den Cookie aus der Hand!? Und du, hör endlich auf zu kauen! Ja, so ist es besser, vielen Dank! Und jetzt wollen wir doch mal sehen, wie es um meine Gefühle bestellt ist …
Und kurz bevor ich mit meiner
Weitere Kostenlose Bücher