Kapitaen Bykow
sagen, aber Wladimir Sergejewitsch – das ist natürlich ganz was anderes, er ist irgendwie gewaltiger als sie, bedeutsamer ...«
Sie traten ins Zimmer. Shilin setzte sich und richtete den Blick auf Jura.
Jura sagte: »Und was für ein Sumpf! Wie erstaunlich das alles gemacht ist – die braune Brühe mit den riesigen weißen Blumen, und die glitschige Haut von irgendetwas im Algenschlamm ... und die Schreie des Dschungels ...« Er verstummte.
»Wanja«, sagte er dann vorsichtig, »Ihnen gefällt der Film anscheinend nicht besonders?«
»Wo denkst du hin!«, erwiderte Shilin. »Ich habe ihn bloß schon gesehen, und ich bin auch ein bisschen zu alt für all diese Sümpfe, Jura. Ich bin in ihnen herumgelaufen und weiß, wie das wirklich ist ...«
Jura zuckte die Achseln. Er war unzufrieden.
»Freilich, mein Lieber, die Sümpfe sind nicht der springende Punkt.« Shilin lehnte sich in den Sessel und nahm seine Lieblingspose ein: den Kopf zurückgeworfen, die Hände im Nacken gefaltet, die Ellenbogen weit auseinander. »Und glaub bitte nicht, dass ich auf unseren Altersunterschied anspiele. Nein. Es stimmt ja nicht, dass es Kinder und Erwachsene gibt. In Wirklichkeit ist alles komplizierter. Es gibt solche und solche Erwachsene. Da sind zum Beispiel du, ich und Michail Antonowitsch. Würdest du jetzt im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte die ›Geschichte vom Prinzen Genji‹ lesen? Die Antwort steht dir ins Gesicht geschrieben. Michail Antonowitsch aber liest den ›Genji‹ jetzt wohl zum fünften Mal, und ich selbst habe seinen Reiz erst dieses Jahr entdeckt ...« Er stockte und erläuterte dann: »Den Reiz des Buches natürlich. Den von Michail Antonowitsch habe ich viel früher empfunden.«
Jura blickte ihn zweifelnd an. »Ich weiß selbstverständlich, dass das zur Klassik gehört und so weiter«, erklärte er. »Doch fünfmal lesen würde ich den ›Genji‹ nicht. Da ist alles so verwickelt, so kompliziert ... Das Leben ist aber im Grunde einfach, viel einfacher, als es in solchen Büchern dargestellt wird.«
»Das Leben ist aber im Grunde kompliziert«, sagte Shilin. »Viel komplizierter, als es solche Filme wie ›Die Forscher‹ beschreiben. Wenn du willst, versuchen wir, uns Klarheit zu verschaffen. Da ist der Kommandeur Sanders. Er hat eine Frau und einen Sohn. Er hat Freunde. Und wie leicht er trotzdem in den Tod geht. Er hat ein Gewissen. Und wie leicht er trotzdem seine Leute in den Tod führt ...«
»Er hat das alles vergessen, weil ...«
»Das, Jura, vergisst man nie. Und die Hauptsache in dem Film sollte nicht sein, dass Sanders heldenhaft umgekommen ist, sondern wie er es fertiggebracht hat, es zu vergessen. Der Tod war schließlich gewiss, mein Lieber. Dergleichen kommt im Kino nicht vor, deshalb erscheint alles einfach. Und wenn es vorkäme, würdest du den Film langweiliger finden.«
Jura schwieg.
»Nun?«, sagte Shilin.
»Kann sein«, ließ sich Jura widerwillig vernehmen. »Aber mir scheint trotzdem, dass man Leben einfach betrachten muss.«
»Das geht vorüber«, versprach Shilin.
Sie schwiegen beide. Shilin blinzelte in die Lampe.
Jura sagte: »Es gibt Feigheit, es gibt Heldentum, es gibt die Arbeit – interessante und uninteressante. Muss man das alles durcheinanderbringen und Feigheit für Heldentum und umgekehrt ausgeben?«
»Und wer bringt es denn durcheinander, wer ist dieser Lump?«, schrie Shilin auf.
Jura lächelte. »Ich habe einfach nur schematisch dargestellt, wie das in manchen Büchern ist. Man nimmt irgendeinen Typ, schlägt Schaum um ihn, und dann kriegt man, was sie ›ein elegantes Paradoxon‹ oder ›eine widersprüchliche Figur‹ nennen. Dabei ist es immer noch der Typ. So wie dieser Genji.«
»Wir alle sind ein wenig Pferde«, sagte Shilin eindringlich. »Jeder von uns ist auf seine Art Pferd. Es ist das Leben, das alles durcheinanderbringt. Seine Majestät das Leben. Dieser gebenedeite Schurke. Das Leben bringt den stolzen Jurkowski dazu, den unversöhnlichen Bykow um einen Gefallen zu bitten. Das Leben lässt Bykow die Bitte seines besten Freundes abschlagen. Wer von ihnen ist nun ein Pferd, sprich ein Typ? Das Leben lässt Shilin, der völlig mit der eisernen Linie Bykows übereinstimmt, das Märchen von der gigantischen Fluktuation erfinden, um wenigstens auf diese Weise seinen Protest gegen die Unverrückbarkeit dieser Linie auszudrücken. Shilin ist auch ein Typ. Mit lauter Schaum rundherum, keine Spur von beständiger Überzeugung. Und der
Weitere Kostenlose Bücher