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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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mehr in der Stimmung, sich von etwas aufhalten oder abschrecken zu lassen. Er holte einen Dietrich aus seinem Werkzeugkasten und machte sich daran, das Schloss aufzubrechen. Es war nicht besonders kompliziert, ein normales Zylinderschloss. Er brauchte ungefähr fünf Minuten, um es aufzubekommen und den Koffer zu öffnen.
    Er war voller Banknoten, mehr Banknoten, als Zbigniew je auf einem Haufen gesehen hatte. Es waren lauter Zehnpfundscheine. Zbigniew, dessen Gedanken wild durcheinander gingen, merkte, dass er nicht in der Lage war, eine vernünftige Schätzung darüber anzustellen, wie viel Bargeld sich in dem Koffer befinden mochte. Da half nur eins: Er musste es zählen. Wann sollte er das am besten tun? Jetzt sofort. Er setzte sich wieder neben den Koffer und begann. Das Zählen war sehr viel schwieriger, als er gedacht hatte, denn obwohl die Geldscheine früher einmal mit Gummibändern gebündelt worden waren, gab es zwei Probleme. Zum einen waren viele der Gummibänder brüchig geworden und gerissen, so dass das Geld nun lose im Koffer lag. Zum anderen war die Größe der Geldbündel vollkommen uneinheitlich. Die Scheine waren nicht gezählt und dann gebündelt worden; man hatte sie ganz zufällig zu Bündeln zusammengefügt. Es gab also keinen anderen Weg, als die staubigen, mit Gips übersäten Geldscheine alle einzeln zu zählen, und dann nach jedem zehnten Schein – also nach hundert Pfund – zusammenzurechnen. Mit Hilfe dieser Methode stellte Zbigniew fest, dass der Koffer 500000 £ enthielt. Und weil er den Koffer ausschüttete, um das Geld besser zählen zu können, fand er ebenfalls heraus, wem das Geld gehört hatte. Auf dem Boden des Koffers war ein Schildchen, auf dem stand, dass er das Eigentum von Mr Albert Howe sei. Das Schildchen und die Handschrift sahen alt aus, aber nicht uralt. Mrs Leatherbys Mutter war, wie Zbigniew schätzte, über achtzig gewesen, als sie starb; es lag also die Vermutung nahe, dass der Koffer und das Geld ihrem Mann gehört hatten, Mrs Leatherbys Vater.
    Zbigniew warf die Geldbündel zurück in den Koffer und lehntesich mit dem Kopf an die Tür. Er sah es vor seinem geistigen Auge: ein kleines Häuschen mit Garten, seinen Vater, wie er Rosen beschnitt, seine Mutter in der Küche, Musik, die durchs Fenster schallte, die ausklingende Wärme eines Frühsommerabends in Polen. Das Leben, für das sein Vater sein ganzes Leben lang geschuftet hatte und das ihm nun sein Sohn schenkte, der es in London zu etwas gebracht hatte.

DRITTER TEIL
August 2008

64
    »Die finden das total klasse«, sagte Shahid zu seinen Brüdern. »Diese ganze Aufregung, das wilde Herumgerenne, die Versammlungen –«
    »Das hier ist die erste Versammlung, da kann man doch nicht schon im Plural sprechen«, sagte Ahmed.
    »Die erste von vielen. Vielen Versammlungen, Reden, Forderungen, diesem ganzen Trara. Denk nur an diesen wunderbaren Schlachtruf der englischen Mittelschicht: ›Wir müssen etwas unternehmen!‹ Bei Leuten wie denen hier kann alles Mögliche passieren. Wenn sie mit ihrer Empörung erst mal so richtig in Fahrt kommen, machen sie vor nichts mehr Halt. ›Wir müssen etwas unternehmen!‹«
    »Gegen den Krieg haben sie ja nicht besonders viel unternommen, oder?«, sagte Usman. »Die Auswirkungen auf die Immobilienpreise haben sich damals anscheinend in Grenzen gehalten.«
    »Das sind unsere Nachbarn und Kunden, über die ihr da redet. Und dann redet ihr auch noch den allerletzten Schwachsinn«, sagte Ahmed.
    Alle drei Kamal-Brüder hatten die Köpfe eingezogen, zum Schutz vor dem Sommerregen, der auf sie niederprasselte. Währenddessen bahnten sie sich im Slalom ihren Weg durch die Pendlermassen, die von der U-Bahn-Station kamen und auf dem Weg nach Hause waren. Es sah ganz so aus, als würde auch dieser Sommer hundsmiserabel werden. Ahmed versuchte, sich angesichts des heftigen Regens zu beeilen, was typisch für ihn war, Shahid versuchte, die Sache langsamer anzugehen – auch typisch –, während Usman – ebenfalls typisch – ein paar Schritte zurückblieb und sich bemühte, es so aussehen zu lassen, als habe er mit den anderen beiden Männern nicht das Geringste zu tun. Ahmed undShahid waren, unabhängig voneinander, sehr überrascht gewesen, dass Usman zu der Versammlung hatte mitkommen wollen, aber er schien sich auf einmal für das, was in der Straße vor sich ging, sehr zu interessieren. Normalerweise verhielt er sich immer so, als sei alles, was mit dem Geschäft zu tun hatte,

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