Kapital: Roman (German Edition)
immer weniger Sinn. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er von einer ungeheuerlichen Wut über das Unrecht erfüllt war, das man seinem Bruder angetan hatte. Aber er stotterte und drehte sich im Kreis, und sein Akzent sprang immer wieder von seiner normalen, gebildeten Sprechweise zu einer seltsamenSüdlondoner Aussprache, als sei das eine neue Persönlichkeit, die er bei dieser Gelegenheit einmal ausprobieren wollte. Ahmed hatte ihn noch nie so aufgebracht gesehen. Es schien fast so, als hätte er ein wenig den Verstand verloren.
Um zu zeigen, dass sie ihre Bemühungen anerkannte, aber auch, dass sie durchaus noch nicht überzeugt war, sagte Fiona Strauss:
»Wie gesagt, unglücklicherweise ist die Rechtslage eindeutig.«
Mrs Kamal sammelte sich und strahlte einen Moment lang konzentrierte Stille aus. Die Macht, mit der sie ihre eigene Stimmung auf die Umwelt übertragen konnte – eine Eigenschaft, die im Familienleben oft zu einer großen Belastung wurde –, kam ihr hier zugute. Dann sagte sie:
»Nun, das ist alles gut und schön. Wir befinden uns in einem Land, das sich selbst für die Wiege der Freiheit hält. Und was geschieht? Wir werden alle im Morgengrauen mit vorgehaltenen Pistolen aus dem Schlaf gerissen. Diese Vorgehensweise wäre sogar einem Polizeistaat peinlich. Mein zweitjüngster Sohn wird ins Gefängnis geschleift. Er ist vollkommen unschuldig, ist noch nie zuvor in seinem Leben verhaftet oder irgendeines Vergehens angeklagt worden, kein einziges Mal, niemals, aber das scheint niemanden zu interessieren. Man hält ihn fest, ohne die geringste Information nach draußen zu lassen, er hat keinerlei Kontakt mit der Außenwelt, man fälscht seine Unterschrift, um zu behaupten, er habe auf seine Rechte verzichtet, und das sollen wir hinnehmen. Shahid würde niemals auf seine Rechte verzichten. So ist er nicht veranlagt. Er ist das genaue Gegenteil. Aber das kümmert niemanden. Kein Mensch schert sich darum. Keiner ist bereit, etwas dagegen zu unternehmen. Er ist einfach weg. Warum verfrachtet man ihn nicht gleich nach Guantánamo? Das ist es doch, was Sie uns damit sagen wollen, Mrs Strauss. Habe ich nicht recht?«
»Mrs Kamal, an den juristischen Tatsachen in dieser Angelegenheit kommen wir nicht vorbei. Meine Meinung in Bezug auf die Gegebenheiten der Rechtsprechung in dieser Sache hat keinerleiGewicht. Ich kann damit nicht das Geringste bewegen. Und nur, um das mal klarzustellen, es gibt nicht die leiseste Gefahr, dass man Shahid nach Guantánamo Bay ausliefert.«
Durch diese Rede wurde Mrs Kamal etwas klar. Ihr Instinkt für die Schwächen anderer sagte ihr, dass die Anwältin darauf wartete, dass man an ihre Eitelkeit appellierte. Dabei war es nicht etwa so, als hätte sie es nötig, dass man ihr das Gefühl gab, wichtig zu sein. Es musste einfach nur klargestellt werden, dass ihre Klienten auch begriffen, wie wichtig sie war. Jeder, der in dieses Büro kam, war davon überzeugt, dass ihm eine bis dahin nie dagewesene fürchterliche Ungerechtigkeit widerfahren war, und jeder glaubte, seine Geschichte würde ausreichen, um die Anwältin auf seine Seite zu ziehen – als wäre mehr als diese Geschichte nicht nötig. Es war die Geschichte, die ihnen das Allerwichtigste war. Aber für Fiona Strauss war sie selbst das Wichtigste. Und sie verlangte, dass man das anerkannte, bevor sie sich auch nur das geringste Interesse für den Fall entwickelte. Dann erst konnte man auch der Geschichte den ihr gebührenden Respekt zollen. Mrs Kamal erkannte das und handelte entsprechend.
»Aber wir brauchen Sie, Mrs Strauss. Wir sind ohne Sie vollkommen verloren. Wir haben Rechte, die wir nicht zur Geltung bringen können. Die Türen sind uns verschlossen. Wir sind von der Gerechtigkeit ausgeschlossen. Ohne Ihre Hilfe wissen wir gar nicht, wo wir überhaupt mit der Suche danach beginnen sollen. Die Rechtslage mag ja so eindeutig sein, wie Sie es sagen – das heißt, ich bin sicher, sie ist so eindeutig, wie Sie es sagen –, aber die moralische Lage ist nicht minder eindeutig. Sie haben Ihr Leben dem Kampf gegen die Ungerechtigkeit gewidmet. Das wissen wir. Alles, was wir jetzt noch tun können, ist, Sie um Ihre Hilfe zu bitten, für uns und für Shahid. Er ist an einem Ort der Finsternis. Sie müssen uns helfen, ihm das Licht zu bringen, Mrs Strauss. Es gibt niemanden sonst, an den wir uns wenden könnten.«
Die Anwältin nahm ihre zusammengefalteten Hände auseinander und trommelte kurz und leise mit ihren
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