Kapital: Roman (German Edition)
ich weigere mich, dem, was die Polizei diesbezüglich behauptet, irgendwelchen Glauben zu schenken.«
Fiona Strauss war nicht unbedingt die geborene Zuhörerin, aber sie wusste, wann es ratsam war, einem Klienten Gehör zu schenken. Sie saß hinter ihrem Schreibtisch, hatte die Hände zu einem Dach gefaltet, ihre Stirn gerunzelt und den Mund gespitzt. An der Wand zu ihrer Linken hing ein Foto von ihr, wie sie Nelson Mandela die Hand schüttelte. Hinter ihr durch das Fenster konnte man den Montagu Square sehen. Die Platanen standen in voller Blüte, und ein leichter Regen schlug ab und zu, von Windböen gepeitscht,gegen das Fenster. Die Anwältin war eine Meisterin in der Kunst der Pause: Wenn die Leute aufhörten zu reden, dann wartete sie immer einen Moment, bevor sie ihnen eine Antwort gab. Sogar die Art, wie sie ihren gemusterten Schal um den Hals geschwungen hatte, schien eine von hohen Prinzipien geprägte Anteilnahme bekunden zu wollen.
»Shahid ist jetzt seit sieben Tagen inhaftiert, oder? Weil man ihn im Rahmen des Gesetzes zur Terrorismusbekämpfung verhaftet hat, können sie ihn achtundzwanzig Tage lang festhalten, ohne Anklage zu erheben. Das ist eine bedauerliche Tatsache, aber es ist trotz allem eine Tatsache.«
»Aber er hat nichts getan!«, sagte Ahmed. »Das ist doch lächerlich! Shahid ist genauso wenig ein Terrorist wie … wie ich!«
»Ich glaube Ihnen ja. Aber das ändert nichts an der Rechtslage.«
Jeder im Raum merkte, dass Fiona Strauss sich aus irgendeinem Grund zögerlich gab. Sie war eine sehr berühmte Menschenrechtsanwältin, und bei Fällen wie diesem war sie unweigerlich die Erste, die einem in den Sinn kam. Sie war so berühmt, dass Rohinka, als sie ihr riesiges Büro betreten und sie kennengelernt hatte, dachte, sie würde sie eigentlich schon längst kennen: eine typische Begleiterscheinung von Prominenz. Es war so ähnlich, als würde man Mel Gibson auf der Straße begegnen und ihm zuwinken, weil man dachte, es müsse sich um einen alten Freund handeln. Die Kamals hatten damit gerechnet, dass sie ihr nur zu erzählen brauchten, was Shahid passiert war, um sie sofort in gerechtem Zorn entbrennen zu lassen. Und dann würde sie ganz plötzlich in Aktion treten, Pressekonferenzen einberufen, Interviews auf den Treppen des Polizeireviers geben und Shahids sofortige Freilassung veranlassen. Das geschehene Unrecht kam ihnen so ungeheuerlich vor, dass sie sehr erstaunt waren, als sie feststellten, dass andere Leute es nicht automatisch genauso sahen. Aber so schien die Sache nicht zu funktionieren. Die Anwältin sträubte sich, erwartete, von ihnen überzeugt zu werden, forderte – und das war nur sehr schwer zu akzeptieren –, dass man ihrInteresse weckte. Sie hatte unter allen Ungerechtigkeiten der Welt freie Auswahl und suchte sich ihre Fälle mit Bedacht aus. Die Familie Kamal hatte geglaubt, eine missionarische Rächerin vorzufinden, die sich nichts sehnlicher wünschte, als das flammende Schwert der Wahrheit zu ergreifen und es in ihrem Auftrag zu schwingen. Stattdessen sahen sie sich gezwungen, ihr die Sache irgendwie schmackhaft zu machen.
Ahmed fing an, darüber zu reden, was für ein guter Junge sein Bruder sei und dass er nie im Leben etwas mit einem wie auch immer gearteten Terrorismus zu tun haben würde, darüber, wie sehr sich die ganze Familie der Tatsache bewusst sei, was für ein wunderbares und freies Land Großbritannien war (an diesem Punkt rutschte Usman unruhig auf seinem Stuhl hin und her), was für gute Staatsbürger sie seien, eine Familie gläubiger Muslime, die andere Glaubensrichtungen und Überzeugungen bedingungslos respektierte. Die anderen merkten, dass er wild vor sich hinschwafelte, verzweifelt bemüht, Fiona Strauss zum Zuhören zu bewegen. Als ihm die Luft ausging, startete Usman einen Versuch. Er hatte sich in seinem Stuhl vorgebeugt und sah so aus, als würde er am liebsten eine Kapuzenjacke tragen und sich darunter verstecken, wenn man ihn nur ließe. Aus unerfindlichen Gründen hatte er sich entschlossen, seinen Akzent viel rauher und härter klingen zu lassen und mit einer tieferen Stimme zu reden, während er sich an die Rechtsanwältin wandte.
»Die Sache ist die: Wir wissen, dass wir Rechte haben. Jedenfalls sollten wir Rechte haben. Also wo sind unsere Rechte? Wer hilft uns« – und den folgenden Worten verlieh er besonderen Nachdruck –, »sie auch auszuüben ?«
Usman geriet immer mehr in Rage, und seine Worte ergaben infolgedessen
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