Kapital: Roman (German Edition)
sehen. Es war ein ganz gewöhnlicher Vormittag gewesen. Das einzig Erwähnenswerte, das an diesem Morgen passierte, war, dass zwei Polizisten einen Straßenmusiker aus der U-Bahn-Station warfen. Als Roger dort ankam, hatten sie es offensichtlich bereits aufgegeben, gütlich mit dem Mann zu verhandeln, denn sie hatten ihn gerade an den Achseln hochgehoben und waren nun damit beschäftigt, ihn hinauszutragen, während er wild mit den Füßen in der Luft strampelte. Ein dritter Polizist ging mit dem Geigenkoffer des Musikers hinter ihnen her. Es sah aus wie eine Slapstick-Szene aus einem Stummfilm. Roger lächelte um halb zwölf immer noch darüber, als er eine Nachricht bekam, dass Lothar ihn sofort in seinem Büro zu sehen wünsche.
Roger schlenderte durch den Handelsraum und ging im Slalomkurs um die Schreibtische herum. Sein Team war fleißig bei der Arbeit, und der Geräuschpegel hatte eine zufriedenstellende Höhe erreicht – ein lauter Handelsraum bedeutete, dass viel los war. Mark war weit und breit nicht zu sehen, schon den ganzen Vormittag nicht, aber auch das war begrüßenswert. Roger hatte schon seit langem die Nase voll von seinem effizienten, aber zwielichtigen und undurchschaubaren Stellvertreter. Mark hatte so eine Ausstrahlung, als sei er die ganze Zeit gekränkt und habe das Gefühl, man wisse seine Dienste nicht genug zu schätzen, oder irgendetwas in der Art. Roger hatte sich nie die Mühe gemacht, herauszufinden, was dahintersteckte, denn es hatte ihn einfach nicht interessiert.
Einer der Tricks im Umgang mit Lothar – und auch generell im gewieften Umgang mit Vorgesetzten (eine Fähigkeit, auf die heutzutage kein Arbeitnehmer verzichten konnte) – war, seinen Bitten oder Forderungen immer umgehend Folge zu leisten. Selbst dann, oder vielmehr gerade dann, wenn es sich dabei um keine besonders dringende Angelegenheit handelte. Lothar mochte die Vorstellung, dass sein Wille sofort in die Tat umgesetzt wurde, möglichst in derselben Sekunde, in der er ihn zum Ausdruck gebracht hatte. Roger fand deshalb, dass er ganz glänzend in die Besprechung oder den Auftrag oder worum auch immer es sich handelte, gestartet war, als er nur neunzig Sekunden nachdem sein Telefon geklingelt hatte, in Lothars Büro eintraf. Lothar saß nicht hinter seinem Schreibtisch, sondern an dem Konferenztisch, und er sah gar nicht gut aus: Er war sehr bleich; genauer gesagt, war sein Gesicht genauso weiß wie sein Hemd. Es wirkte fast so, als hätte er sich entschlossen, diesen ganzen Skifahren-Segeln-Orientierungslauf-Triathlon-Unsinn aufzugeben und stattdessen lieber in Bibliotheken herumzusitzen, weshalb er sich nun übers Wochenende auch die dazu passende Gesichtsfarbe zugelegt hatte. Neben Lothar saß Eva, die Chefin der Personalabteilung. Sie stammte aus Argentinien, lächelte nie, und sein Wissen um ihre absolute Hingabe an die Firma und daran, dass dort auch alles korrekt verlief, machte Roger in diesem Augenblick nervös. Es geht wahrscheinlich um irgendeinen Scheiß, der mit einer Beschwerde oder einer Entlassung oder Einstellung zu tun hat. Es konnte unmöglich um die Diskriminierung weiblicher Kollegen gehen, denn Roger hatte kaum welche. Irgendjemand hatte hinter seinem Rücken etwas angestellt. So ist das Leben.
»Ah, Roger«, sagte Lothar. »Wir haben hier ein kleines Problem. Und wenn ich ›wir‹ sage, dann meine ich Pinker Lloyd. Inwieweit sind Sie darüber informiert, dass sich Ihr Stellvertreter direkt vor Ihrer Nase krimineller Veruntreuung schuldig gemacht hat?«
Lothars Stimme krächzte leicht, und er zitterte heftig, wie Roger nun erkennen konnte. Es wurde ihm klar, dass sein Bossnicht bleich war, weil er seine Freiluftbeschäftigungen aufgegeben hatte, sondern weil er wütend war. Er war wütender, als Roger ihn je zuvor gesehen hatte. Genauer gesagt, hatte er noch nie jemanden so wütend gesehen. Roger hatte das überwältigende Gefühl, dass irgendetwas ganz furchtbar schiefgelaufen war.
»Wovon reden Sie da eigentlich?«, fragte Roger.
Und dann erzählten sie es ihm. Er konnte nicht alles verstehen, aber im Wesentlichen schien es darum zu gehen, dass jemand in der Compliance in dem Nutzerprotokoll seines Computers etwas entdeckt hatte, das dort nicht hingehörte. Das war Marks Fehler gewesen: Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Angestellten der Compliance und der Sicherheit nicht nur die Computer aller anderen überprüften, sondern auch ihre eigenen. Das war vor drei Tagen gewesen, am
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