Kapital: Roman (German Edition)
war Matya einen Moment lang still und willigte dann ein. Sie klang überrascht und erfreut. Er hatte Pluspunkte gesammelt, weil ihm eine Idee gekommen war, die sie nicht von ihm erwartet hätte. (Polnische Männer – sehr unromantisch. Das hatte Matyas Freundin zu ihr gesagt.)
Die Kulisse am Fluss gab ihm zum ersten Mal das Gefühl, tatsächlich mitten in London zu sein. Fast so, als würde jemand sagen: London? Na bitte, hier ist es! Er hatte überfüllte Pubs und Bars gesehen, halbnackte Körper, die sich während der vollkommen unberechenbaren Schönwetterperioden in den Parks ausbreiteten, vollgestopfte U-Bahn-Waggons, die Einkaufsstraßen Londons während des samstagnachmittäglichen Shoppingwahnsinns; aber das hier war etwas anderes. Hier begegnete man Menschen aus aller Welt, mitten in der Stadt, Menschen, die aus dem einzigen Grund hergekommen waren, weil sie hier sein wollten. Auf der anderen Seite des grauen, dunklen Flusses lag das Parlament, Touristenbusse spuckten ihre Dieseldämpfe über die Zufahrtsstraßen, überall waren Museen, Theater und Konzertsäle, es gab eine Eisenbahnbrücke, eine Straßenbrücke und eine Fußgängerbrücke, alle drei mit viel Verkehr in beiden Richtungen, die Restaurants waren brechend voll, Jongleure und Pantomimen verschwendeten die Zeit der Passanten und versperrten den Weg, Kinder rannten umher, es gab einen Skateboardpark für Teenager, in dem sie ordentlich voreinander angeben konnten, überall waren Paare, die sich an den Händen hielten, eine Polizistin führte ein Pferd am Halfter, das auf dem Rücken eine Decke mit der Telefonnummer eines Kinderschutzbundes trug – wahrscheinlich weil diese Gegend übersät war von Zuhältern auf der Suche nach ahnungslosen kleinen Mädchen –, Straßenstände verkauften touristischen Schnickschnack und Snacks zum Mitnehmen, es gab Straßenmusiker, aber auch viele Leute, die eigentlich gar nichtsmachten, die einfach nur dort waren, weil sie dort sein wollten. Ausnahmsweise regnete es gerade nicht, und irgendwann brach sogar die Wolkendecke auf.
»Was ist dieses große gelbe Ding da oben am Himmel?«, fragte Zbigniew. »Es kommt mir so vor, als hätte ich es schon mal gesehen. Aber nicht in London. Es war irgendwo anders. Und es brennt!«
Sie konnten sich nicht einigen, ob sie Eis oder Waffeln kaufen sollten, und entschieden sich schließlich für je eins von beidem. Aber Matya hatte recht gehabt, die Waffel schmeckte wie gegrillte Pappe. Sie kicherte über seine verzweifelten Versuche, das Ding herunterzuwürgen. Schließlich musste er den Rest wegschmeißen. Und der Anblick, den sie bot, während sie ihr Schokoladeneis mit Pfefferminzstückchen aß! Zbigniew wusste gar nicht mehr, wo er hinschauen sollte. Sie blieben stehen und hörten einem Klarinette spielenden Mann zu. Zbigniew kannte das Stück, es war von Mozart. Als er ihr das sagte, war sie ganz offensichtlich beeindruckt. Dann – und das war sein Meisterstück – verkündete er, dass er schon im Voraus Karten für das London Eye gebucht hatte. Und hier waren sie nun.
Eine der japanischen Frauen war zu Matya gekommen und hatte mit Hilfe von Zeichensprache und Mimik angeboten, ein Foto von Matya und Zbigniew mit Matyas Mobiltelefon zu machen. Also rückten sie näher zusammen, und die lächelnde japanische Frau hielt die Hand hoch, um anzuzeigen: Passt auf, jetzt kommt’s, und machte dann das Foto. Dann hatte Zbigniew (schlauer Zbigniew!) die Idee, sie zu bitten, dasselbe auch mit seinem Handy zu tun, so dass er und Matya auf ihren Mobiltelefonen ein fast identisches Zbigniew-und-Matya-auf-dem-London-Eye-Foto haben würden. Anschließend brachte er sie nach Hause, rechtzeitig für die Verabredung, die sie mit einer Freundin zum Tee getroffen und wegen der sie ihn schon vorgewarnt hatte – eine clevere Methode, um ihrem Rendezvous einen Abschluss zu setzen. Er war also nicht der Einzige, der sich Gedanken über Strategien und Vorgehensweisengemacht hatte. Sie gingen zur U-Bahn-Station, und beim Abschied gab er ihr einen kleinen Kuss auf die Wange. Nun, dachte Zbigniew. Das war ja wohl ziemlich perfekt. Und dann war es an der Zeit, an etwas anderes zu denken. Aber Zbigniew musste zu seiner großen Verwunderung feststellen, dass ihm das nicht gelang.
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Am Morgen des 15. September – es war ein Montag – wurde Roger gefeuert. Niemand hatte ihn darauf vorbereitet, es waren keinerlei Warnzeichen erkennbar gewesen, und er hatte es auch nicht im Entferntesten kommen
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