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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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Freitagnachmittag. Der Mann von der Compliance hatte die Sache untersucht und entdeckt, dass nicht autorisierte – höchstwahrscheinlich illegale – Handelsgeschäfte stattgefunden hatten. Daraufhin hatte er seinen Vorgesetzten informiert, und eine größere Gruppe von Bankangestellten hatte das ganze Wochenende durchgearbeitet. Mark hatte mit Aktien im Wert von mehreren zehn Millionen Pfund gehandelt. Zunächst hatte er dabei etwa fünfzehn Millionen Gewinn gemacht, musste aber dann einen Rückschlag einstecken und war im Augenblick an die dreißig Millionen Pfund im Minus. Just in diesem Augenblick war ein ganzes Team von Händlern damit beschäftigt, die übrigen noch offenstehenden Positionen abzuwickeln. Seit heute Morgen um sechs Uhr befand sich Mark wegen Betrugsverdachts in polizeilichem Gewahrsam. Die nicht autorisierten und/ oder illegalen Handelsgeschäfte hatte er direkt vor der Nase seines Vorgesetzten durchgeführt. Das war die Formulierung, die Lothar benutzte – »direkt vor der Nase seines Vorgesetzten« –, wobei er auf Roger in der dritten Person Bezug nahm. Einen Moment lang wusste Roger deshalb nicht genau, wen er damit meinte, ihn oder sich selbst. Doch meinte er ganz offensichtlich Roger, wie aus seinen nächsten Worten zu erkennen war:
    »Es handelt sich hier um grobe Fahrlässigkeit. Sie sind fristlos und mit sofortiger Wirkung entlassen. Sie haben fünfzehn Minuten, um Ihren Schreibtisch zu räumen und das Gebäude zu verlassen.«
    In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein großer schwarzer Mann in der Uniform des Sicherheitsdienstes stellte sich in den Eingang und faltete die Hände vor dem Bauch.
    »Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte Roger.
    »Fünfzehn Minuten.«
    »Das ist doch Schwachsinn, Lothar. Das müssen doch sogar Sie zugeben, dass das absoluter Schwachsinn ist.«
    »Leben Sie wohl«, sagte Lothar. Eva schaute hoch und nickte Roger zu; es war das erste Mal, dass sie Blickkontakt hatten. Sie stand auf und reichte ihm einen Umschlag.
    »Sie werden von meinen Anwälten hören«, sagte Roger und merkte, dass seine Stimme zitterte.
    »Die Details finden Sie in diesem Brief«, sagte sie. Einen Moment lang fühlte Roger sich versucht, eine Bemerkung über die Falklands zu machen.
    »Clinton?«, sagte Lothar. Der Sicherheitsbeamte machte einen Schritt vorwärts. Roger hob die Hände in einer Fass-mich-bloß-nicht-an-Geste und ging dann vor dem Beamten her zurück zu seinem Büro. Diese wenigen Minuten waren so furchtbar, dass Roger später große Schwierigkeiten hatte, sich daran zu erinnern. Er musste die ganze Zeit gegen das überwältigende Bedürfnis ankämpfen, nur auf seine eigenen Füße zu starren und nichts sonst anzusehen. Sich einen Weg durch diese ganzen Schreibtische zu bahnen ist gar nicht so einfach! Ich muss nach unten schauen! Nein – Roger versuchte, den Kopf hochzuhalten. Aber das fiel ihm sehr schwer, denn jede einzelne Person im Raum starrte ihn an. Im Handelsraum, der noch vor wenigen Minuten von der üblichen lärmenden Geschäftigkeit erfüllt gewesen war, herrschte nun eine solche Stille, dass Roger ein leises elektronisches Summen hören konnte – vielleicht von einer der Lampen oder von einem Computerlaufwerk.Trotz all der Jahre, die er in diesem Raum und in dessen Nähe verbrachte, hatte er dieses Geräusch noch nie bewusst wahrgenommen. Und auch seine Crew, seine Kollegen, seine bald nur noch Ex-Kollegen hatten noch nie so ausgesehen: Dem Dünnen Tony war buchstäblich die Kinnlade heruntergefallen, die knallharte Michelle machte den Eindruck, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen, und Jez starrte Roger fassungslos an, während er das Telefon ignorierte, das er sich ans Ohr geklemmt hatte. Dann bewegte sich sein Blick zur Seite, und er schaute kurz den Sicherheitsbeamten an. Danach wanderte der Blick zurück, und er gaffte wieder Roger an. Dann zurück zu dem Sicherheitsbeamten. Dann wieder zu Roger. Als wäre er ein Zuschauer bei einem Tennismatch. Noch nie waren so viele Bildschirme mit Datenmaterial von so vielen Händlern für so lange Zeit ignoriert worden.
    In seinem Büro musste Roger eine Entscheidung treffen. Schließe ich die elektronischen Jalousien, oder ziehe ich die ganze Sache hier durch, während alle mich sehen können? Soll es so aussehen, als schämte ich mich, oder soll ich den Leuten meine Schande präsentieren? Glücklicherweise nahm ihm Clinton diese Entscheidung ab. Er schaltete die Glaswände auf opak – das

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