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Kapital: Roman (German Edition)

Kapital: Roman (German Edition)

Titel: Kapital: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lanchaster
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war aufmerksam von ihm. Oder vielleicht hatte er ja auch viel Erfahrung mit solchen Situationen. Trotzdem war aber auch das irgendwie demütigend, denn bis jetzt, bis zu diesem Augenblick, hätte kein Angestellter des Sicherheitsdienstes bei Pinker Lloyd es gewagt, in Rogers Büro auch nur einen Knopf zu berühren oder etwas zu verstellen, ohne dass er es ihm aufgetragen hätte. Clinton fühlte sich hier so richtig wie zu Hause. Clinton hatte das Sagen. So schlimm war es also. Und so real. Seine Passwörter waren mit Sicherheit bereits geändert worden, um ihn aus dem Computersystem der Bank auszusperren.
    Die Tür öffnete sich, und ein zweiter Sicherheitsbeamter betrat den Raum. Auch er war schwarz. Er hatte einen leeren Weinkarton dabei, den er auf Rogers Schreibtisch abstellte.
    »Für Ihre persönlichen Sachen«, sagte Clinton. Der Beamte, der den Weinkarton mitgebracht hatte – ein Sancerre, wie Roger auffiel –, öffnete hilfsbereit die Kartonklappen auf der Oberseite. Dann trat er einen Schritt zurück, verließ aber nicht den Raum.
    Roger ging auf die andere Seite seines Schreibtisches. Meine Sachen. Alles klar. Auf dem Tisch stand ein Foto von Arabella und den Jungs, in Winterkleidung, das vor zwei Jahren in Verbier aufgenommen worden war. Das Kindermädchen, das gerade eben noch Joshuas Nase abgewischt hatte, war nur als kleiner Schattenfleck am unteren Bildrand zu sehen. Arabella mochte das Bild nicht besonders, denn das Licht war unschmeichelhaft grell gewesen, aber alle sahen darin so glücklich und gesund aus, dass es eines von Rogers Lieblingsbildern seiner Familie war. Er legte es unten in den Pappkarton und fügte dann seinen Füllfederhalter hinzu. Als Nächstes öffnete er die Schubladen des Schreibtischs, woraufhin Clinton um den Tisch herumlief und sich neben ihn stellte. Roger wusste, warum: Er wollte ihn davon abhalten, irgendetwas mitzunehmen, was der Bank gehörte. Theoretisch kannte Roger den gesamten Ablauf, denn das war die Standardvorgehensweise, wann immer jemand entlassen wurde. Aber wie sich herausstellte, gab es da einen großen Unterschied zwischen Theorie und Praxis, und der war folgender: Theorie war, wenn es anderen Leuten passierte. Praxis war, wenn es einem selbst zustieß.
    Sein Schreibtisch war fast leer, abgesehen von – und das hatte er vollkommen vergessen – einem Ersatzhemd, das er vor ein paar Monaten anlässlich einer Besprechung mit ins Büro genommen, aber nie angezogen hatte, und einem Paar Sportschuhe, das er mit zur Arbeit gebracht hatte, als er noch überlegte, das Fitnessstudio der Bank zu benutzen. Dann war da noch ein Moleskine-Notizbuch, das Arabella einmal an Weihnachten in seinen Strumpf gesteckt hatte, damals, als sie sich noch gegenseitig Weihnachtsstrümpfe aufgehängt hatten (in ihrem Strumpf waren ein Gutschein für einen Wellnessaufenthalt und ein Paar Ohrringe gewesen). Das Notizbuch war leer, abgesehen von einer Reihe vonZahlen, die Roger sich zunächst nicht erklären konnte. Dann wurde ihm klar, dass es sich dabei um die Rechnung handelte, die er aufgestellt hatte, als er letztes Jahr herauszufinden suchte, wie hoch sein Bonus sein musste, um seine ganzen Auslagen zu decken. Der nicht vorhandene Eine-Million-Pfund-Bonus. Er war im Begriff, seinen BlackBerry in die Tasche zu stecken, als Clinton seine Hand ausstreckte und ein Hüsteln von sich gab. Er und Roger starrten sich an.
    »Was?«, fragte Roger.
    »Das ist Bankeigentum«, sagte Clinton. Er blieb sehr sachlich und nüchtern dabei. Roger legte den BlackBerry wieder auf den Schreibtisch. Er war fast fertig. Vor ein paar Monaten hatte ihm einer seiner Angestellten eine Flasche Wein geschenkt, als Dankeschön für irgendetwas. Die legte er jetzt auch in den Karton. Als Letztes folgte sein Terminkalender, in dem so gut wie gar nichts stand. Der Karton war nun zu ungefähr einem Drittel gefüllt. Roger hob ihn hoch.
    »Okay«, sagte Clinton, der jetzt ganz unbestreitbar und offiziell die Zügel in die Hand genommen hatte. Er öffnete die Tür, und Roger verließ sein Büro. Die beiden Sicherheitsbeamten folgten ihm. Dieses Mal taten ein oder zwei seiner Kollegen so, als starrten sie ihn nicht an; ein oder zwei sahen so aus, als wollten sie etwas sagen, seien sich aber nicht sicher, ob es das Richtige war. Der Dünne Tony – das war sehr nett von ihm – hielt sich die Hand mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger ans Ohr, womit er ihm sagen wollte: Ruf mich an, oder: Ich rufe dich an. Dann

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